Mitten im Leben Arbeiten im öffentlichen Gesundheitsdienst


Vorwort Impressum Herausgeber Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. (BVÖGD) Redaktion Kerstin Stiefel Fotos Jost Schilgen Layout Bettina Steinacker Druck alpha print medien AG Wir danken allen Mitwirkenden sowie Dr. Jürgen Rissland, Dr. Claudia Kaufhold und Heike Dilßner-Nweke für ihre Unterstützung. Diese Broschüre wurde gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit. 2


Dr. Ute Teichert Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes Hereinspaziert! S ie sind Medizinstudent? Oder Assistenzärztin? Oder bereits Facharzt? Dann sollten Sie die Menschen kennenlernen, die sich in dieser Broschüre vorstellen! Die neun Frauen und Männer sprechen stellvertretend für die rund 2.500 Ärztinnen und Ärzte zwischen München und Kiel, die sich für den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) als Alternative zu Praxis oder Klinik entschieden haben. Sie arbeiten jeden Tag daran, dass die Menschen in Deutschland vor Infektionskrankheiten geschützt und in allen Lebenslagen bei der Erhaltung ihrer seelischen und körperlichen Gesundheit bestmöglich unterstützt werden. Jede und jeder von ihnen tut das auf seine Weise. Als Amtsarzt in Niedersachsen, als Epidemiologin in Berlin, als Infektionsschutzexpertin in Rostock, als Schulärztin im Saarland oder als Psychiater in Dortmund. Auch Wissenschaftler können im ÖGD ihren Platz finden. Davon berichtet eine Umweltmedizinerin, die aus der Uni in den ÖGD in München gewechselt ist. Gleichzeitig aktiv im Ge- sundheitsamt und in der Praxis? Wie das funktioniert, erfahren Sie von einer Kollegin aus Hamburg. Es kommt auch ein junger Medizinstudent zu Wort, der sein Wahltertial des Praktischen Jahres (PJ) im Gesundheitsamt Frankfurt gemacht und mit Begeisterung an einem bundesweit einmaligen Projekt teilgenommen hat. Seine Vorgängerin im PJ absolviert nun ihre komplette Facharztausbildung im Gesundheitsamt Fulda und berichtet darüber. Die Wege dieser neun Kolleginnen und Kollegen sind unterschiedlich. Aber am Ende steht dasselbe Fazit: Es war die richtige Entscheidung! Sind Sie neugierig geworden? Dann lassen Sie sich inspirieren. Hereinspaziert! Ihre Dr. Ute Teichert 3


Aktueller denn je – Gesundheitsschutz für alle! I n Europa grassieren todbringende Seuchen, als der deutsche Arzt und Hochschullehrer Johann Peter Frank im Jahr 1790 an der Universität Pavia eine für damalige Verhältnisse unerhörte Rede hält. Er spricht vom „Volkselend als Mutter aller Krankheiten“. Schlimmer noch: Er benennt die ärmlichen Lebensbedingungen und die mangelnde Hygiene als Hauptursache für die Krankheiten in der Bevölkerung. Er verlangt, diesen Missständen durch „obrigkeitliche Vorsorge“ zu begegnen. Diese Rede war die Geburtsstunde des öffentlichen Gesundheitswesens. Johann Peter Frank gilt als sein Begründer. Heute, mehr als 200 Jahre später, hat sich die Lebenswartung in Europa annähernd verdoppelt, die Versorgung mit sauberem Trinkwasser ist gesichert, und es stehen wirksame Impfstoffe zur Verfügung. Und trotzdem: Die Ideen von Johann Peter Frank wirken immer noch nach. Die Bedro- 4 hungen heißen heute zwar nicht mehr Pestilenz oder Cholera - doch eine „obrigkeitliche Vorsorge“ wird auch in einem sozialen Rechtsstaat immer noch gebraucht. Neben der ambulanten und stationären Versorgung arbeiten rund 400 Gesundheitsämter, Landesbehörden und Bundesinstitutionen an der Aufdeckung und Bewältigung von Influenzapandemien, Ausbrüchen von EHEC-Infektionen oder Masernepidemien. Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) überwacht die Infektionshygiene in Krankenhäusern, Arztpraxen und Gemeinschaftseinrichtungen. Er kontrolliert die mikrobiologische Qualität des Trinkwassers, kümmert sich gemeinsam mit niedergelassenen Zahnärzten und Krankenkassen um zahnärztliche Vorsorgeuntersuchungen und Gruppenprophylaxe in Kindergärten, Kitas und Schulen. Er führt Schul­ eingangsuntersuchungen durch, berät zu Imp-


fungen und bei Entwicklungsstörungen oder Behinderungen. Zu den Aufgaben der Gesundheitsämter gehören auch amts-, vertrauens- und gerichtsärztliche Untersuchungen für Gutachten, Atteste oder Gesundheitszeugnisse. Und der ÖGD ist nicht zuletzt Ansprechpartner bei psychosozialen Problemlagen – bei Bedarf und in Krisensituationen auch zuhause in den eigenen vier Wänden. Johann Peter Frank hat Recht behalten: Die Verbesserung der Lebensverhältnisse war grundlegende Voraussetzung für ein längeres und gesünderes Leben. Und: Vorsorge ist besser als Heilen. Seine Vision ist auch heute noch Grundlage für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ÖGD in Deutschland - flächendeckend, kompetent und ausschließlich auf das gesundheitliche Wohl der Bevölkerung ausgerichtet. Den Ärztinnen und Ärzten, die sich diesem Ziel verschreiben, bietet der ÖGD Freiräume für soziales und medizinisches Engagement fernab der Fallpauschalen in Kliniken und der lähmenden Abrechnungsmathematik in der niedergelassenen Praxis. Und die Arbeit im ÖGD eröffnet interessante berufliche Perspektiven in vielen Disziplinen. Neben Allgemeinmedizinern arbeiten beispielsweise Kinderärzte, Internisten, Psychiater, Zahnärzte, Mikrobiologen und Hygieniker im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Viele davon sogar als Doppelfachärzte, da es eine eige- ne Weiterbildung für das Fach „Öffentliches Gesundheitswesen“ gibt. Attraktiv wird die Tätigkeit im ÖGD nicht zuletzt auch durch die allgemeinen Vorzüge des öffentlichen Dienstes, wie einen sicheren Arbeitsplatz und eine verlässliche Altersversorgung. Außerdem bietet der ÖGD hervorragende Voraussetzungen, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Informationen Mehr Informationen und Kontakte gibt es auf der Homepage des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (www.aerzte-oegd.de und www.bvoegd.de). Fragen zur Aus- und Weiterbildung im öffentlichen Gesundheitsdienst beantworten die Akademie für öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf (www.akademie-oegw.de) sowie das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit in München (www.lgl.bayern.de). Außerdem stehen die Gesundheitsämter der Landkreise und kreisfreien Städte für Fragen zur Verfügung. 5


„Es ist schon so: Ein Amtsarzt muss sich überall auskennen.“ 6


„D er Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes“, so steht es in der Bundesärzteordnung. Nachdem ich diesen Satz in der Vorlesung gehört hatte, machte es bei mir „Klick“: Die Gesundheit des einzelnen Menschen UND gesamten Volkes! Und welcher Facharzt ist nun für das ganze Volk zuständig? Das wollte ich wissen. In meinem Praktischen Jahr 2013/14 habe ich als zweite Medizinstudentin in Deutschland das Wahlfach „Öffentliches Gesundheitswesen“ belegt und ging für ein Tertial ins Gesundheitsamt in Frankfurt am Main. Und ich war begeistert, wie vielfältig und anspruchsvoll die Arbeit dort ist. Ich begegnete vielen medizinischen Fachdisziplinen - von Innerer Medizin, über Chirurgie, Psychiatrie und Orthopädie bis hin zu Sozial- und Umweltmedizin. Es ist schon so: Ein Amtsarzt muss sich überall auskennen. Ich habe dann noch während des Praktischen Jahres beschlossen, mich beim Gesundheitsamt Fulda für das dort erstmals angebotene Traineeprogramm zu bewerben und mich dort zur Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen weiterbilden zu lassen. Das hat dann auch direkt nach meinem Staatsexamen Ende 2014 geklappt. Fünf Jahre wird die Weiterbildung insgesamt dauern. Zunächst verbringe ich sechs Monate zur Einarbeitung im Gesundheitsamt, danach werde ich in die klinische Zeit „abgeordnet“. Konkret heißt das: 30 Monate in der direkten Patientenversorgung, danach sechs Monate in der Psychiatrie. Anschließend komme ich wieder zurück ins Gesundheitsamt und gehe blockweise an die Akademie für öffentliches Gesundheitswesen, um die notwendige Theorie zu lernen. Am Ende des langen Laufes steht die Facharztprüfung. Aktuell bin ich im amtsärztlichen Dienst tätig. Zu meinen Aufgaben gehören zum Beispiel Erwerbsfähigkeitsgutachten für das Kreisjobcenter oder Gutachten zur Eignung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des öffentlichen Diens- IM PROFIL Dr. Dorothee Hofmann (30)   verheiratet, keine Kinder   Ärztin seit 2015 Trainee für die Weiterbildung zur Fachärztin für Öffentliches Gesund- heitswesen beim Gesundheitsamt Fulda   tes für eine Übernahme ins Beamtenverhältnis. Ich beurteile aber auch den Bedarf einer kostenaufwendigen Ernährung für Sozialhilfeempfänger und Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen. Und ich berate Menschen, die eine HIV-Diagnostik brauchen oder wünschen. Das Gute als Trainee ist: Ich kann mich jederzeit mit meinem weiterbildungsermächtigten Vorgesetzten und/oder mit Kolleginnen und Kollegen beraten. Das gibt mir Sicherheit und hilft immer weiter. Die nächsten Einsatzgebiete sind Schutzambulanz für Obdachlose, Kinder- und Jugendmedizin sowie Hygiene- und Umweltmedizin. Ich bin schon sehr gespannt! Was mich am Gesundheitsamt besonders reizt, ist die Vielfältigkeit: Ich begegne Menschen jeden Alters, und die Themen, mit denen ich mich beschäftige, reichen vom ungeborenen Leben bis über den Tod hinaus. Ich bearbeite Fragestellungen, die mir in der Klinik nie begegnen würden. Mein Blick reicht weit über den medizinischen Tellerrand hinaus. Ob ich empfehlen kann, direkt nach dem Studium ins öffentliche Gesundheitswesen zu gehen? Unbedingt all denen, die Spaß daran haben, fachgebietsübergreifend zu arbeiten, die gerne Menschen nicht nur untersuchen, sondern auch beraten, und die in ihrer Heimat gesundheitspolitische Akzente setzen wollen. 7


„W illst du nicht lieber als richtige Ärztin arbeiten?“, fragten mich Studienkollegen, Freunde und Familienangehörige, als ich mich vor vielen Jahren für eine Laufbahn im öffentlichen Gesundheitsdienst entschied. „Nein!“, sagte ich damals. Und ich bin bis zum heutigen Tag davon überzeugt, dass meine Arbeit der einer „richtigen Ärztin“ in nichts nachsteht. Schon als ich während meines Studiums an der Universität in Rostock ein Praktikum im sozialmedizinischen Bereich absolvierte, wusste ich: Das ist für mich besser als Klinik! Eine in der Wendezeit weggefallene Facharztausbildungsstelle für Sportmedizin und zwei kleine Kinder bestärkten mich in dieser Entscheidung. Umso mehr freute ich mich, als ich 1993 eine Weiterbildungsstelle als Fachärztin für Hygiene und Umweltmedizin im damaligen Landeshygieneinstitut bekam, dem heutigen Landesamt für Gesundheit und Soziales in Rostock. Schon während der Weiterbildung entdeckte ich im Infektionsschutz ein Arbeitsfeld, das mich bis heute begeistert. Neben den Dauerbrennern aus der Krankenhaushygiene - nosokomiale Infektionen oder multiresistente Erreger - interessieren mich auch Fragestellungen der Umweltmedizin wie die Untersuchung von Badewasser. Am spannendsten aber finde ich Infektionskrankheiten bzw. die Impfungen, die die Menschen vor Erkrankungen und deren Komplikationen schützen können. Ich bin stolz darauf, dass Mecklenburg-Vorpommern nicht nur als Urlaubs- sondern auch als Impfland bundesweit vorbildlich ist. Dass wir auf dem Treppchen so weit oben stehen, ist uns nicht in den Schoß gefallen, sondern das Ergebnis harter Arbeit auch auf allen Ebenen des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Natürlich sind unsere Erfolge keine Selbstläufer, und wir müssen kontinuierlich daran arbeiten, die Durchimpfungsraten in der Bevölkerung und die positive Impfeinstellung in der Ärzteschaft zu erhalten und weiter zu verbessern. 8 „Ich bin bis zum heutigen Tag davon überzeugt, dass meine Arbeit der einer „richtigen Ärztin“ in nichts nachsteht.“ Seit März 2014 bin ich auch Mitglied der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut und vertrete dort die Interessen des ÖGD. Wir erarbeiten dort aktuelle Impfempfehlungen für die gesamte Bevölkerung oder für bestimmte Risikogruppen und stellen einen Impfkalender für Säuglinge, Kinder und Erwachsene auf.


IM PROFIL Dr. Martina Littmann (52)   verheiratet, zwei Kinder Fachärztin für Hygiene und Umweltmedizin     Auch jetzt, nach 22 Jahren, kann ich allen Berufsanfängern und allen Kollegen, denen der Gesundheitsschutz der Bevölkerung am Herzen liegt, besten Gewissens raten, sich für die interessante, vielseitige und familienfreundliche Tätigkeit im ÖGD zu entscheiden. Ich habe es jedenfalls nie bereut. seit 1993 im Landeshygieneinstitut, späteren Landesgesundheitsamt und jetzigen Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGuS) MecklenburgVorpommern in Rostock seit 2007 Leiterin der Gesundheitsabteilung   seit 2014 Mitglied der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch- Institut (RKI)   9


„Langeweile ist nicht zu befürchten. Aber bei uns bleibt genug Zeit für ein freundliches Wort für die Menschen, die täglich zu uns kommen.“ 10


K annte ich nach dem Medizinstudium die Aufgaben eines Gesundheitsamtes? Wusste ich, was ein Amtsarzt tagtäglich macht? Wenn ich ehrlich sein soll: Nein, nicht wirklich. Der öffentliche Gesundheitsdienst als die dritte Säule neben der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland kam in meiner Ausbildung zum Mediziner eigentlich kaum vor. Ich habe es nach Weiterbildungszeiten in Innerer Medizin, Mikrobiologie, Immunologie und Biochemie letztlich dem engagierten Einsatz eines Kollegen – selber viele Jahre Leiter eines Gesundheitsamtes - zu verdanken, trotzdem den Weg in den ÖGD gefunden zu haben. Er verstand es, durch seine Schilderungen aus dem abwechslungsreichen und interessanten Alltag meine Neugierde zu wecken Nach nunmehr 14 Jahren kann ich sagen: zu Recht! Ich kam und blieb. Und nach der Weiterbildung zum Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen habe ich schließlich die Leitung eines - wie ich finde - recht typischen Gesundheitsamtes übernommen: Knapp 165.000 Einwohner hat der Landkreis Rotenburg (Wümme). Wir sind Teil des Flächenlands Niedersachsen, inmitten ausgedehnter Wälder, naturbelassener Moore und Seen, aber auch mit den Städten Hamburg, Bremen und Hannover in guter Reichweite. Was macht mir hier am meisten Spaß? Das Arbeiten im kollegialen und interdisziplinären Team. Und die tägliche Herausforderung, das ganze Spektrum der Medizin vertreten zu können (und zu müssen). Dabei sind die Anforderungen vielfältig: Begutachtungen zu unterschiedlichsten medizinischen Fragestellungen, gesundheitliche Beratungen, Reisemedizin, Kinder- und Jugendmedizin, Inklusion, Eingliederungshilfe bei Menschen mit Behinderungen. In den letzten Jahren häufig auch die in den Medien zunehmend wahrgenommenen Infektionskrankheiten oder das Problem der multiresistenten Erreger. Alles in allem ist die Arbeit im öffentlichen Ge- IM PROFIL Priv. Doz. Dr. Frank Stümpel (54)   Unverheiratet, keine Kinder Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen   Seit 2002 im Gesundheitsamt Rotenburg (Wümme)   Seit 2005 Leiter des Gesundheitsamtes des Landkreises Rotenburg (Wümme)   sundheitsdienst eine echte und interessante Alternative zu Praxis oder Krankenhaus. Die immer häufiger fraglichen Rahmenbedingungen in der kurativen Medizin haben sich hier noch nicht so deutlich bemerkbar gemacht. Meine Empfehlung an alle jungen Kolleginnen und Kollegen: Seien Sie neugierig, informieren Sie sich über mögliche Tätigkeiten im ÖGD! Langeweile ist übrigens nicht zu befürchten. Aber dennoch bleibt (anders als in der Klinik) bei uns genug Zeit für ein freundliches Wort für die Menschen, die täglich zu uns kommen. Und das bekommt man auch fast immer zurück - ein schönes Gefühl. 11


„W ie kannst Du nur?!“ Allzu oft habe ich diese Frage gehört, als ich meine gutgehende hausärztliche Praxis in Hamburgs Mitte aufgegeben und eine Teilzeitstelle als leitende Schulärztin im Gesundheitsamt Hamburg-Altona angenommen habe. Sechs Jahre ist das jetzt her. Der Grund für diesen Entschluss klingt banal, war es aber nicht. Nach der Geburt meines dritten Kindes und nach mehrjährigem, aufreibendem Spagat zwischen Familie und Selbstständigkeit IM PROFIL brauchte ich dringend eine Entlastung. Per Zufall Dr. Christiane Mehner (48) sah ich eine Anzeige in der   verheiratet, drei Kinder Zeitung des Marburger   Fachärztin für Allgemeinmedizin Bundes, bewarb mich und   in Weiterbildung zur Fachärztin für bekam die Stelle im Kin Öffentliches Gesundheitswesen der- und Jugendgesund  von 2003 bis 2009 niedergelassen in heitsdienst im Gesund eigener hausärztlicher Praxis in heitsamt Hamburg-Altona. Hamburg Ich räume gerne ein:   seit 2009 Leitende Schulärztin im Die Umstellung ist mir an Gesundheitsamt Hamburg-Altona fangs nicht ganz leicht ge  seit 2011 Hausärztin in Teilzeit in einer fallen. Ich war es einfach Praxis in der Hamburger Innenstadt nicht gewohnt, so viel Zeit mit den Patienten verbringen zu können, wie diese wirklich brauchen. Ich war wohl zu lang Teil des kassenärztlichen Systems gewesen. Das Arbeitsklima im Amt ist angenehm, die Arbeitszeiten sind familienfreundlich, die Arbeit mit den Kindern und ihren Familien ist sehr erfüllend. Meine Abteilung hat 15 Mitarbeiter, davon 7 Ärztinnen. Ich untersuche überwiegend Kinder im Maßnahmen wie beim Tag der Zahngesundheit, Jahr vor der Einschulung und überprüfe deren För- bei Impfaktionen, bei der Erstuntersuchung der derbedarf bei den Umgebungsbedingungen und Asylbewerber und bei der Untersuchung minderbei ihren schulrelevanten Fähigkeiten. Die Arbeit jähriger, unbegleiteter Flüchtlinge. in einem gut vernetzten Team mit Pädagogen, Von Anfang an war ich begeistert von den FortSozialpädagogen und niedergelassenen Kollegen bildungsmöglichkeiten der Stadt Hamburg. Schon erleichtert den Alltag wirklich sehr. Wenn nötig, nach kurzer Zeit konnte ich mit der Weiterbildung vertrete ich meine Kolleginnen auch in der Impf- zur Ärztin für Öffentliches Gesundheitswesen ansprechstunde und bei gesundheitsfördernden fangen, ich besuche Führungsfortbildungen und 12


„Ich war es einfach nicht gewohnt, so viel Zeit mit den Patienten verbringen zu können, wie diese wirklich brauchen.“ nehme regelmäßig an einem Coaching für weibliche Führungskräfte teil. Und doch... Nach etwa zwei Jahren begann ich, meine hausärztliche, praktische Arbeit zu vermissen. Und prüfte meine Möglichkeiten. Ergebnis: Seit 2011 arbeite ich immer dienstags und donnerstags in einer Praxis in der Hamburger Innenstadt, versorge Akut-Patienten aller Altersstufen und betreue Pflegeeinrichtungen für ältere und geistig behinderte Menschen. Eine Zeitlang glaubte ich, mich irgendwann für eine Stelle entscheiden zu müssen, aber mittlerweile empfinde ich den Wechsel als abwechslungsreich und gut vereinbar. Die Erfahrungen in meinen beiden Jobs ergänzen sich - fachlich und im menschlichen Miteinander. Mehr als das: Jetzt hat sich mein Traum von der „Hausärztin für die ganze Familie“ tatsächlich erfüllt. 13


„Das Spannende ist, dass ich mir immer wieder neue Inhalte erarbeiten und sie daraufhin überprüfen muss, ob sie den Menschen auch einen gesundheitlichen Nutzen bringen.“ 14


W eil ich 2007 mit meiner Familie von Hessen nach München umgesiedelt bin, suchte ich dort nach einer neuen Wirkungsstätte in „meiner“ Hochschulmedizin. Das Problem: Nicht nur in München, sondern in ganz Bayern war mein Fachgebiet Hygiene und Umweltmedizin an keiner Universität mit einem Lehrstuhl vertreten. Ich bekam zwar Angebote für Projektstellen in verwandten Fachgebieten – aber eine Projektstelle kam für mich damals absolut nicht in Frage. Ich hatte vier Kinder im Alter zwischen null und neun Jahren und war an der Universität in Hessen fest angestellt gewesen. Da wollte ich mich nicht verschlechtern. Ich habe mich dann „blind“ beim Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) beworben, das meine Arbeitsfelder weitgehend abdeckt. Und ich bekam mehr oder weniger umgehend eine Zusage! Nach einiger Zeit in der Krankenhaushygiene konnte ich die Leitung des etwa 20-köpfigen Teams im Bereich Arbeits- und Umweltmedizin, Epidemiologie übernehmen. Wir beschäftigen uns mit den unterschiedlichsten Fragestellungen: „Macht Infraschall von Windrädern die Menschen krank?“ oder „Wie wirken sich luftgetragene antibiotikaresistente Erreger aus der Tierhaltung auf die Anwohner aus?“ Wir beraten lokale Gesundheitsbehörden und die Politik in Fachfragen und Krisenlagen und forschen interdisziplinär mit Universitäten und anderen Partnern zu Fragen wie „Legionellenausbrüche in der Bevölkerung im Zusammenhang mit wasserführenden Anlagen“ oder „Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort durch moderne Technologien: Chancen nutzen, Risiken vermeiden“. Ich arbeite auch in europäischen Gremien mit, beispielsweise am Robert Koch-Institut (RKI) oder im Europäischen Komitee für Normung (CEN). Sehr viel Freude macht mir auch die Lehre an der Uni München und die Betreuung von Doktoranden und Masterstudenten. Aktuell bin ich au- ßerdem Präsidentin der Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Präventivmedizin (GHUP). Was mich an der Arbeit im öffentlichen Gesundheitsdienst fasziniert? Ich kann hier gleichzeitig forschen und an der Umsetzung der eigenen Ergebnisse mitwirken. Ich kann unmittelbar dazu beitragen, dass die Menschen von der Forschung profitieren - echte Bevölkerungsmedizin also. Das Spannende dabei ist, dass ich mir immer wieder neue, vor allem naturwissenschaftlichtechnische Inhalte erarbeiten und sie daraufhin überprüfen muss, ob sie den Menschen auch einen gesundheitlichen Nutzen bringen. Alles in allem ist der ÖGD ein ideales Betätigungsfeld für Ärzte, die ihren Fokus nicht auf die individualmedizinische, sondern auf die bevölkerungsmedizinische Versorgung legen wollen. IM PROFIL Prof. Dr. Caroline Herr (49)   verheiratet, vier Kinder Fachärztin für Hygiene und Umweltmedizin, Praktische Ärztin, QM-Auditorin-TÜV, Reisemedizin   Aufbau der Umweltmedizinischen Ambulanz sowie des Hessischen Zentrums für Klinische Umweltmedizin im Institut für Hygiene und Umweltmedizin der Universität Gießen   Habilitation   Seit 2011 Leiterin des Fachbereichs Arbeits- und Umweltmedizin/ Epidemiologie im Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL)   15


H ätte man mir während des Studiums eine Famulatur im öffentlichen Gesundheitsdienst angeboten – ich hätte dankend abgelehnt. Ich stellte mir eher eine praxisbezogene Tätigkeit vor, etwas Aufregendes, Spannendes ... Aber Akten wälzen? Am Schreibtisch sitzen? Nun ja, das passte (und passt) nun wirklich nicht zu mir. Nach Abschluss meines Studiums und nach dem dritten Kind hatte ich eigentlich etwas Familienzeit eingeplant. Ab und zu unterbrochen von Einsätzen als Honorarärztin beim ADAC-Rückholdienst. Soweit der Plan. Bei der Eingewöhnung eines meiner Kinder in den Kindergarten erzählte mir die Leiterin, dass sich die Einschulungsuntersuchungen wegen eines Krankheitsfalles im Gesundheitsamt schon wieder verzögert hätten. Dann sagte sie plötzlich: „Aber Sie sind doch auch Ärztin! Könnten nicht Sie...?“ Ein wenig zögerlich signalisierte ich immerhin die Bereitschaft darüber nachzudenken. Ich bekam die Nummer des Gesundheitsamtes in Neunkirchen - angerufen, vorgestellt, eingestellt! Mittlerweile bin ich seit fast acht Jahren dabei. Meine Patienten sind Kinder zwischen 0 und 18 Jahren und deren Familien. Die Fragestellungen sind sehr unterschiedlich und abwechslungsreich. Von Kindergärten oder -krippen werde ich beispielsweise kontaktiert, wenn ein chronisch IM PROFIL Diana Thiel (41)   vier Kinder   Ärztin Studium der Humanmedizin an der Universität des Saarlandes in Homburg     Honorarärztin beim ADAC-Rückholdienst seit April 2007 im Kinder- und Jugendärztlichen Dienst des Kreisgesundheitsamtes Neunkirchen (Saarland)   16 krankes Kind die Einrichtung besuchen soll, aber niemand so recht weiß, ob und wie das gehen kann. Gemeinsam mit den Eltern und den Ärzten, die das Kind betreuen, versuche ich eine Lösung zu finden. Dazu gehört auch, die Erzieher über Art und Ausprägung der Erkrankung zu informieren und sie in der Handhabung von Notfallmedikamenten zu schulen. Wenn am Ende alles klappt, ist das ein richtig gutes Gefühl. Im Schnitt anderthalb Jahre vor der Einschulung untersuche ich alle Schulkinder im Rahmen der Einschulungsuntersuchung. Fallen dabei kindliche Entwicklungsdefizite auf, kann ich den Eltern zu diesem sehr frühen Zeitpunkt eine passgenaue Förderung empfehlen. Später überprüfe ich, ob und wie sich das Kind weiter entwickelt hat. Während der gesamten Zeit bin ich für die Eltern da, zeige ihnen alternative Beschulungsmöglichkeiten auf oder zusätzliche Förderkonzepte. Vor fünf Jahren habe ich ein tolles Projekt in Angriff genommen - meine Schulsprechstunde. Alle vier Wochen fahre ich mit einer sozialmedizinischen Assistentin zu einer der vier weiterführenden Schulen, die am Projekt teilnehmen. Die Sprechstunden sind gut besucht und bieten den Schülern einen niedrigschwelligen Zugang zur Medizin. Die Themen sind so vielfältig wie das Leben selbst: von banalen Infekten über Liebeskummer bis hin zu Verhütung und Schwangerschaft. Ein derzeit sehr aktuelles Thema ist der stetige Strom von Flüchtlingen nach Deutschland. Kein Flüchtlingskind darf die Schule ohne Untersuchung des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes besuchen. Für mich heißt das: Immer wieder Familie, Fahrdienst und Dolmetscher mit meinem Terminkalender zu koordinieren, um das Kind möglichst schon „vorgestern“ in die Schule zu lassen. Das Schöne daran: Ich muss mich immer wieder mit fremden Sprachen auseinandersetzen. Da nicht immer ein Dolmetscher dabei ist, suche und finde ich zwangsläufig kreative Lösungen. Ich bin mittlerweile eine Meisterin im Zeichnen und


„Die Themen sind so vielfältig wie das Leben selbst: von banalen Infekten über Liebeskummer bis hin zu Verhütung und Schwangerschaft.“ beherrsche sogar ein paar Worte Arabisch. Ich schätze auch sehr das Arbeiten im Team. Wir arbeiten hier im Kinder- und Jugendärztlichen Dienst mit drei Ärztinnen und sechs sozialmedizinischen Assistentinnen sehr kollegial und gut zusammen. Und auch interdisziplinär gibt es einen kurzen Draht: Amtsärztlicher Dienst, Frühe Hilfen, Gesundheitsschutz, Sozialdienst, Tuberkulosefürsorge - alle Abteilungen sind nur einen Anruf oder eine Flurlänge weit weg. Und ich habe hier die Freiheit, eigene Projekte zu entwickeln und werde dabei gut unterstützt. Ich kann mir bei meiner täglichen Arbeit Zeit nehmen und die Familien langfristig und nachhaltig begleiten. Und ich muss mich nicht im zeitlichen und wirtschaftlichen Spagat zwischen Patientenbetreuung und Verwaltungsarbeit aufreiben. Last but not least: Die Work-Life-Balance stimmt! Als Mama von vier Kindern finde ich es praktisch, keine Nacht- oder Wochenenddienste machen zu müssen, die Kindergarten- und Schulfeste meiner Kinder besuchen zu können und abends pünktlich nach Hause zu kommen. Und ... nein! Ich wälze nicht acht Stunden täglich Akten. An manchen Tagen wird sogar der Kaffee kalt. Ganz wie in der Klinik. 17


„Es war wirklich eine sehr intensive Zeit, und ich habe sehr viel über die Patienten und ihre Hintergründe gelernt.“ 18


M ein Entschluss, das Wahltertial des Praktischen Jahres im öffentlichen Gesundheitsdienst zu absolvieren, ist erst sehr spät gefallen. Ich studiere an der Goethe-Universität Frankfurt, und beim dortigen Gesundheitsamt gibt es eine so genannte „Internationale Humanitäre Sprechstunde“. Hier können sich nicht krankenversicherte Menschen aus der Stadt Frankfurt kostenlos untersuchen und beraten lassen. Ich habe dort mit einigen Kommilitonen hospitiert - sehr eng und gut betreut von einer Amtsärztin. Diese Hospitation hat mich auf die Idee gebracht, bei der Studentischen Poliklinik der Goethe-Universität Frankfurt mitzuarbeiten. Das Konzept: Studierende höherer klinischer Semester übernehmen alle administrativen und ärztlichen Aufgaben bei der Betreuung nicht krankenversicherter Menschen - einmal die Woche und in den Räumen des Gesundheitsamtes. Vorbereitet werden wir in einem curricular integrierten Programm. Die Supervision hat die Amtsärztin übernommen, die auch die Internationale Humanitäre Sprechstunde betreut. Es war wirklich eine sehr intensive Zeit, und ich habe sehr viel über die Patienten und ihre Hintergründe gelernt. Und ich habe einen Einblick bekommen, wie vielseitig die Aufgaben eines Gesundheitsamtes tatsächlich sind. Ich wollte mehr erfahren und habe mich entschlossen, mein eigentlich geplantes Wahlfach in der Mund-, Kiefer- und plastischen Gesichtschirurgie aufzugeben und das Wahltertial im Gesundheitsamt zu absolvieren. Nach mittlerweile fast acht Wochen im Gesundheitsamt kann ich ein erstes Resümee ziehen: Die Entscheidung für ein Tertial im Gesundheitsamt war auf jeden Fall die Richtige! Ich habe schulärztliche Untersuchungen durch­geführt, an Spezialsprechstunden für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge teilgenommen, habe Hausbesuche gemacht mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst und mit der „Frühen Hilfe“, die die Entwicklung und Gesundheit von Kindern IM PROFIL Lukas Seifert (27)   ledig, kinderlos Student der Humanmedizin (11. Semester)   Seit November 2014 im Gesundheitsamt Frankfurt (Wahltertial)   aus sozial schwachen Familien fördert. Ich war in der Impfberatung tätig und in der anonymen HIV-Sprechstunde. Das Gute daran: Ich konnte nicht nur praktische Erfahrungen sammeln, sondern hatte auch Einblick ins Management eines Gesundheitsamtes, zum Beispiel im Umgang mit der Ebola-Epidemie. Auch über sozialrechtliche Fragen habe ich viel gelernt. Und weil mein Tertial sehr gut strukturiert ist und alle Ärzte, medizinischen Fachangestellten, Psychologen und Sozialpädagogen mein Interesse und Engagement wertschätzen, waren die ersten acht Wochen eine sehr positive Erfahrung. Kurzum: Ich habe meine Entscheidung für ein Tertial im öffentlichen Gesundheitsdienst keinen Tag bereut! In den nächsten Wochen werde ich in einer Sprechstunde für sexuell übertragbare Erkrankungen und in einer Tuberkulose-Sprechstunde mitarbeiten und in der Flughafenambulanz des Fraports hospitieren. Es bleibt spannend! 19


B ereits während meiner Weiterbildung zur Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin hat mich neben der kurativen Medizin auch die bevölkerungsbezogene Sicht auf Gesundheit sehr interessiert. Als fertige Fachärztin stand dann für mich die Frage an, wie es weitergehen soll. Ich konnte mir nicht vorstellen, mein restliches Arbeitsleben in einer Klinik zu verbringen. Auch die Vorstellung, mich als niedergelassene Ärztin räumlich und finanziell zu binden, war zu diesem Zeitpunkt für mich keine Option. Daher beschloss ich, mein Interesse an Public Health zu vertiefen und habe mich für ein Studium an der Technischen Universität Berlin entschieden. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité konnte ich während des berufsbegleitenden Studiums dennoch Kontakt zur patientenorientierten Medizin halten. Im Public Health-Studium entdeckte ich mein großes Interesse an Methoden und an der Epidemiologie. Nach dem Abschluss als Magistra Public Health wusste ich, dass ich in diesem Bereich bleiben wollte. Den direkten Patientenkontakt brauche ich für meine berufliche Zufriedenheit nicht unbedingt. Nach einer Zwischenstation beim Robert Koch-Institut wechselte ich schließlich in die Senatsverwaltung für Gesundheit in Berlin. Und auch nach mittlerweile neun Jahren kann ich sagen: Ich würde mich wieder für diesen Weg entscheiden! Schwerpunkt meiner Arbeit ist die Gesundheitsberichterstattung aus den Daten der Einschulungsuntersuchungen. Mich reizt die Arbeit mit Daten – allerdings nicht als Selbstzweck, sondern vor dem Hintergrund, dass darauf Erkenntnisse und Planungsprozesse aufbauen, die am Ende zu einer Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung beitragen. Wir werten nicht nur Daten aus, sondern beraten mit unseren Berichten die Fachebene anderer Bereiche sowie die politisch Handelnden. Und wir vermitteln unsere Ergebnisse und Erkenntnisse auch in Gremien 20 wie der Landesgesundheitskonferenz. Wir konnten zum Beispiel bei den Entwicklungsverzögerungen im Vorschulalter Bevölkerungsgruppen und Sozialräume identifizieren, bei denen besonderer Handlungsbedarf besteht. Auf dieser Grundlage haben die in der Landesgesundheitskonferenz vertretenen Akteure in den besonders betroffenen Sozialräumen gezielte Maßnahmen und Modellprojekte in Kindertagesstätten angestoßen. Dieser praktische Nutzen meiner Arbeit bestärkt mich in meiner Entscheidung für den öffentlichen Gesundheitsdienst. Was ich an meinen Aufgaben auch sehr schätze, ist die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Disziplinen: Sozialwissenschaftler, Psychologen, Pädagogen, Wirtschaftswissenschaftler, Juristen – jeder von ihnen bringt eine andere Sichtweise auf Gesundheit mit. Und auch wenn das für mich nicht die entscheidenden Beweggründe waren: Es ist sehr schön, planbare Arbeitszeiten zu haben und keine Wochenend- oder Bereitschaftsdienste machen zu müssen. IM PROFIL Dr. Sylke Oberwöhrmann MPH (47)   Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin   Magistra Public Health   Facharztausbildung Universitätsklinik Kiel    und Klinikum Saarbrücken Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité in Berlin   Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Robert Koch-Institut in Berlin     seit 2006 in der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales


„Es ist sehr schön, planbare Arbeitszeiten zu haben und keine Wochenend- oder Bereitschaftsdienste machen zu müssen.“ 21


E s gibt zwei Entscheidungen in meinem Leben, die ich keinen Tag bereut habe: Die erste ist die für meine Frau Anne, die zweite die für den Wechsel von der Klinik in den Sozialpsychiatrischen Dienst. Als ich mich entschloss, Medizin zu studieren, tat ich dies aus den Gründen, die die meisten von uns haben: Ich wollte (ein bisschen rezeptbuchartig) lernen, wie ich Menschen helfen und Krankheiten heilen und damit die Welt ein bisschen besser machen kann. Und dabei habe ich - ebenfalls wie die meisten - hauptsächlich ans Operieren, an Antibiotika, Luftröhrenschnitte und lebensrettende Injektionen gedacht. 22 Im Studium faszinierte mich vor allem die topografische Logik der Neurologie, und so begann ich meine Facharztausbildung dort. Ein Jahr Psychiatrie war vorgeschrieben, ich ging dafür nach Wellington, die Hauptstadt Neuseelands. Statt einem Jahr blieb ich zweieinhalb. Nicht nur Land und Leute faszinierten mich, auch dieses gerne belächelte Teilgebiet der Medizin. Überhaupt war ich als Assistenzarzt ein Rumtreiber: zwölf Jahre, neun Kliniken, drei Länder (England, Deutschland, Neuseeland) und vier Fachgebiete (Unfallchirurgie, Neurochirurgie, Neurologie und Psychiatrie). In Neuseeland lernte ich die aufsuchende sozialpsychiatrische Arbeit kennen. Die deutsche


„Ich bin bei diesen Begegnungen zunächst einmal Gast - eine ganz andere Rolle als im Krankenhaus, wo ich das Hausrecht und einen Kittel habe.“ nach Deutschland suchte ich nach Möglichkeiten, auch hier so zu arbeiten. Und fand die Sozialpsychiatrischen Dienste, die ganz überwiegend aufsuchend, niederschwellig und unmittelbar in der Realität der Betroffenen tätig werden. Parallel dazu veränderte sich meine eigene familiäre Situation. Wir bekamen Kinder, und die „alten Herrschaften“ in unserer Familie wurden älter und unterstützungsbedürftiger. Ohne die Bereitschaft meines Arbeitgebers, der Stadt Dortmund, meine Arbeitszeit über volle elf Jahre auf zwei Drittel zu reduzieren, hätten wir es nicht geschafft, vier Kinder großzuziehen und gleichzeitig vier „Oldies“ zu versorgen. Inzwischen arbeite ich wieder Vollzeit. Ich kümmere mich mit Kollegen (neben Ärzten auch Sozialarbeiter und -pädagogen, Pflegekräfte und Verwaltungsangestellte) um chronisch psychisch Kranke, die so beeinträchtigt und isoliert leben, dass sie die Angebote niedergelassener Kollegen oder Kliniken nicht nutzen können. Wir suchen die Menschen zu Hause auf – manchmal die ersten IM PROFIL Besucher seit Jahren - und kümmern uns zuerst Dr. Thomas Lenders (54) um praktische Dinge: Lebensmittel, Arbeitslosen geld, Sozialhilfe, Krankenversicherung, Miete.   verheiratet, vier Kinder Erst dann geht es um die Krankheit, die zu die  Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ser Lebenssituation geführt hat (meist Psychosen   seit 1999 im Sozialpsychiatrischen Dienst oder langjährige Sucht): Welche Sicht haben die des Gesundheitsamtes Dortmund Betroffenen selbst? Wo und wie können sie sich Änderung oder Behandlung vorstellen? Was ist Trennung von ambulanter und stationärer Versor- der nächste Schritt? Ich bin bei diesen Begeggung gibt es dort nicht. Als psychiatric registrar nungen zunächst einmal Gast - eine ganz andere behandelte ich die Patienten dort, wo sie waren. Rolle als im Krankenhaus, wo ich das Hausrecht Wenn sie stationäre Versorgung brauchten, ging und einen Kittel habe. ich zu ihnen ins Krankenhaus, wenn sie dazu in „Vermisst du den OP und den Rezeptblock der Lage waren, kamen sie in die Ambulanz. Und denn gar nicht?“, werde ich oft von früheren Kolwenn sie sich sehr zurückgezogen hatten, fuhr ich legen aus Studium und Krankenhaus gefragt. Ja mit den Domiciliary Nurses (aufsuchenden Kran- klar, irgendwie schon. Aber meine Arbeit passt kenpflegekräften) eben zu ihnen nach Hause. zu mir. Und ich kann mein Wissen um (seelische) Die aufsuchende Arbeit in der unmittelbaren Krankheiten sehr sinnvoll einsetzen. Lebens- und Wohnsituation der Patienten hat mich sehr beeindruckt. Nach meiner Rückkehr 23