Agile Haltung Simple not easy Agiles Unterrichten mehr als eine Methode Agile Praxis zum Nachmachen   ForUm Agil lernen Und leHren Helix 2019  nr. 01 gute Bildung ist schlicht gute Zusammenarbeit


Otto Kraz Gestatten: Otto Kraz.  (In Wirklichkeit heiße ich Heinz Bayer und war 35 Jahre  lang Gymnasiallehrer an der schulischen Basis am Faust- Gymnasium in Staufen. Physik, Mathematik.) Ich werde Sie  durch dieses Heft unseres Forums hindurch begleiten.  Werde versuchen, Ihnen den roten Faden dieses Magazins  aufzuzeigen. Das Forum agil lernen und lehren versteht sich  als eine „Abteilung“ des Forums agile Verwaltung, es entstand  auch aus diesem Kreis heraus. Deshalb beginnen wir doch- gleich mit einem „Grußwort“ unseres Vorsitzenden. :-) Agile? Scrum? Das sind doch Begriff aus der Software- und  Produktentwicklung. Was hat das mit Bildung zu tun?  Mehr als dem einen oder anderen möglicherweise klar  ist. Agilität ist in erster linie eine geisteshaltung. Umso  mehr freut es mich, wenn die Haltung hinter dem  Begriff ihren Weg auch in die Bildung findet. Zwar erfreut  sich die Agilität seit einigen Jahren einer Renaissance,  gerade in der Softwareentwicklung, aber die Idee ist weit- aus älter und kehrt von dort aus zurück.  Zurück in nahezu alle Bereiche unsere (er-)lebens.  Wenn wir im Forum Agile Verwaltung über Agilität spre- chen, dann beziehen wir uns auf das Agile manifest der  Softwareentwicklung. Aber nicht weil wir der Auffassung  sind, dass die dort verfassten Prinzipien sich ausschließlich  auf komplexe Software beziehen, sondern weil die dort  verfassten Prinzipien universeller sind. Agile Geisteshal- tung bedeutet Zusammenarbeit zu befördern, gemeinsam  sich selbst und in der Zusammenarbeit zu entwickeln. Es  ist die Erkenntnis, dass wir in einer komplexen Welt nur  gemeinsam voranschreiten können. Das Wissen darum,  dass wir gemeinsam besser lernen und das Lernen Spaß  machen darf. Agilität bedeutet Lernen, Erkunden, Entde- cken. Nicht im Alleingang, sondern mit anderen.  Agilität in diesem Sinne bedeutet sich auf Unbekanntes  einzulassen. Wenn wir Lernen, dann tun wir genau dies.  Wir lassen uns auf Unbekanntes ein. Wir gehen einen  Schritt weiter, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen.  Wenn wir lernen, entdecken wir neue Dinge. Wenn wir  lernen, lösen wir Aufgaben, die wir bisher nicht kannten.  Wenn wir lernen, tasten wir uns iterativ an die beste mög- liche Lösung heran. Ein solches Lernen braucht Freiräume.  Es braucht die Chance, entdecken zu können. Es braucht  den Austausch mit anderen.  Die agile Geisteshaltung – die gerade im agilen Manifest  zum Ausdruck kommt – rückt dabei nicht den Formalis- mus in den Vordergrund, sondern das Ergebnis und die  Beteiligten. Die agile Geisteshaltung lehnt Absolutheit ab.  Betrachtet die Dinge nicht als in Stein gemeißelt. Sondern  hinterfragt sich selbst. Die agile Geisteshaltung ist eine  ganzheitliche Betrachtung der Mitwirkenden, des Um- felds, des Ergebnisses und aller Beteiligten.  Die Vorstellung, dass es niemals einen Endzustand gibt,  sondern es darum geht, das Beste aus der jeweiligen Situa- tion herauszuholen und sich ständig weiterzuentwickeln. Es geht dabei um • ein gemeinsames Verständnis • eine Fokussierung auf das Ergebnis, nicht auf Prozesse • Offenheit untereinander, miteinander und für neue         Ideen • Respekt gegenüber allen Beteiligten • und Mut auszusprechen, was falsch läuft und Bereit- schaft sich auf das mögliche Scheitern einzulassen. Wer den Weg in die Agilität beschreitet, der fragt zuerst nach dem Weshalb und nicht nach dem Wie.   Agilität ist das Lernen als ganzheitlicher Prozess.  Gemeinsam mit, von und auch durch andere. Und wo  lässt sich Lernen am besten ausüben, wenn nicht in  unseren Schulen und Hochschulen?  Das vorliegende Magazin möchte ermuntern, sich der agilen  Geisteshaltung zu öffnen und sie als mehr als nur eine  Methode der Wissensvermittlung zu verstehen. Agilität  ist keine neuerfindung, sie ist die Wiederentdeckung der lust am lernen und entdecken.  Sie ist die Rückbe- sinnung auf das Weshalb unseres Tuns. Sie referenziert  nicht auf abstrakte Ziele, sondern auf die Beteiligten und  Mitwirkenden. Agile Denk- und Arbeitsweisen können  und sollen dabei unterstützen, gemeinsam zu lernen, zu  entwickeln, selbst und gemeinsam das Abenteuer Lernen  zu beschreiten.  Denn der Anspruch der agilen Denkweise ist, dass  Lernende und Lehrende sich gemeinsam entwickeln. Thomas Michl, Vorsitzender des Forums Agile Verwaltung e.V. Agilität ist Lernen                                   Thomas Michl




Agile Bildungspraxis ist in erster Linie eine Sache  der Haltung   Heinz Bayer Ich versuche in diesem Artikel einmal, die Aussagen von  Thomas Michl weiter zu fokussieren. Ich bin seit meiner  Pensionierung viel in Sachen Hattie-Studie unterwegs und stelle  dort immer wieder fest: Der Wunsch von uns Pädagogen, ein- fach eine schlanke Methodik an die Hand zu bekommen, um  effektiv unterrichten zu können, funktioniert nicht, wenn wir  nicht gleichzeitig die höchsten Effektstärken im Blickfeld haben:  Kollegiale Zusammenarbeit, Augenhohe, Feedback, Feedback  und nochmals Feedback. Und schon sind wir bei der agilen  Bildungspraxis. Agiles Mindset Was ist das eigentlich? Bildung, die unserer Zeit  entspricht. Zeitgemäße Bildung. Oh ja, ich höre  manchen Leser stöhnen. „Ein solch riesiges Meer von  verschiedenen Ansichten, dass einem schwummrig wird.“  Ich finde nicht, wenn man die Frage anders angeht. Aus der  Sicht der menschlichen Entwicklung ... Wobei die Steinzeit  ja bekanntermaßen noch immer in uns steckt. Deshalb  nehmen wir doch einmal das, was man heute weiß - über  uns Menschen: Wir menschen lernen am besten, wenn wir mit dem  lernumfeld zufrieden sind.  Die Self-Determination Theory  wurde vor 0 Jahren von Richard M. Ryan und Edward L.  Deci in die Welt gebracht und ich halte sie für eine gute  Diskussionsgrundlage für zeitgemäße Bildung:  Die Motivation, gut zu lernen, hängt davon ab, inwieweit  die drei psychologischen Grundbedürfnisse nach 1. sozialer  eingebundenheit,  . Autonomie und 3. Kompetenz spüren  befriedigt werden können.  Soziale eingebundenheit  ist üblicherweise meist kein so  großes Problem. Denken Sie an Ihre Schulzeit zurück. Da  kommen sie, die wohligen Gefühle aus dem wunderbaren  Freundeskreis Gleichgesinnter. Aber Autonomie? Da  finden Sie sicher keine postiven Schul-Gefühle. Und dann  „Kompetenz spüren“ ? Vielleicht waren Sie ja richtig  notenstark in der Schule - was übigens laut vielen Studien  keinerlei Rückschlüsse auf Ihren jetzigen beruflichen Erfolg  zulässt. Ich sehe da viele nicken. Ich sehe Sie dieses  Gefühl abschütteln, das man in der Schule üblicherweise  auferlegt bekommt: Man ist doch nie wirklich gut gewesen,  immer mit Mängeln belegt. Dieses „nur 2- - Gefühl“  kommt wieder hoch. Sie kennen es garantiert.  Agiles lernen ermöglichen bedeutet anders denken lernen. Stellen Sie sich einmal vor, Ihr damaliger Physiklehrer hätte  Sie als spätere/n ..................... (hier Ihren Beruf einsetzen)  angesprochen und als solche/n sehr ernst genommen, auch  wenn Sie Physik nicht zu Ihrem Spezialgebiet gezählt hätten.  Dann hätten Sie heute ein völlig anderes Verhältnis zu  diesem Fach.  Wären die Noten zusätzlich auch noch unter  dem Aspekt von „Für eine vier in Klasse 11 muss man schon  ziemlich viel Physik kapieren“ gesehen worden wäre und  nicht unter dem typischen „Grade noch ne Vier-Aspekt“, dann  wäre ihr Weltbild heute sicher viel breiter aufgestellt.  Der gewohnte Unterricht verhindert sehr oft Kompetenz- entwicklung anstatt zum Durchstarten zu animieren. „Ja  aber ich bin gezwungen, Noten zu machen,“ höre ich so  manchen Kollegen ausrufen. „Aber die Freiheiten in ihrem  eigenen Unterricht?“ halte ich dagegen ... Agil lernen und  lehren heißt ja nicht, ohne klare rahmenbedingungen, hohen Anspruch und noten auskommen zu müssen. Agile denkweise ist ein simpler Paradigmenwechsel.   „Simple, not easy“ schreibt Christof Arn auf Seite 8 dazu.  Auch wenn Sie selbst jetzt Lehrer sind, dann wissen Sie es  aus Ihrer eigenen Schulzeit: Auch Sie wurden natürlich nicht  als späterer Kollege ernst genommen. Als Schüler viel zu  wenig Autonomie und Kompetenz spüren - das ist die  Schieflage, die Schule zu oft in unseren Gefühlswelten er- zeugt. Agil lernen und lehren kann hier Abhilfe schaffen. Schauen Sie doch einmal in diese Denkwelt hinein. Viel Spaß dabei    Heinz Bayer


Agiles Mindset


Nicht erst seit das Buch Agile Verwaltung erschienen ist, er- reicht mich die wiederkehrende Frage: Ist der ganze Hype um  «agil» eigentlich nur Marketing? Geldmaschine für Berater?  Neues  Buzzword  und  eine  frische  Managementsau,  die  da  durchs Dorf getrieben wird? Was ist denn überhaupt neu an  dem? Systemiker und andere sagen – nicht zu Unrecht –, - dass sie so oder sehr ähnlich schon lange…- dass es immer um die gleichen Grundbedürfnisse des Men        schen und generische Prinzipien gehe…- und dass das Problem doch in erster Linie die Umsetzung      sei – wissen tun wir’s doch schon lange, ‘agil’ ist nur wieder     ein anderes Etikett, aber es wird halt nicht richtig getan…Diskussionen  dazu  –  auch  publizierte  –  gibt  es  einige.  Ich  stelle mich dem heute hier einmal mit einer persönlichen Be- trachtung. Auch aus einer gewissen Betroffenheit heraus…Im  Forum  Agile  Verwaltung  www.agile-verwaltung.org  ist  sichtbar, dass ich auch zu «diesen Agilen» gehöre. Mit dem  Label Forum Agile Verwaltung e.V. stehe ich vor Konferenz- publikum oder in Organisationen. Ich bin – nach 1 Jahren  in  der  öffentlichen  Kernverwaltung  –  gemäss  meiner  Mail- signatur  jetzt  wieder    «Organisationsberaterin  und  Projekt- leiterin mit einer Vorliebe für Fragen, für die es noch keine  fertige  Antwort  gibt.  Begeisterte  Grenzgängerin,  unterwegs  in 4 Ländern und  Sprachen und in den Zwischenräumen  zwischen Disziplinen. Schwerpunkte: Transformation, Orga- nisations-  und  Entwicklungshandwerk  (Manufaktur,  nicht  von  der  Stange),  Agil  in  nicht-agilen  Umwelten,  Umgang  mit Nicht-Planbarem, Bildungssysteme vs. nichtformale Bil- dungswege und ‚Fehler machen schlauer.‘ Da steht ‘agil’ zwischen vielen anderen Schwerpunkten, nicht  als erstes oder einziges – und dann noch im Zusammenspiel  mit nicht-agil. Bin ich also ein Weichei? Eine Mantelnach- demwindhängerin?  Eine  Verräterin  an  der  agilen  Sache?  Oder, wie ich gern zu sagen pflege, sorgsam differenziert im  Umgang mit ‘agil’? Mein persönlicher Blickwinkel auf Agil,  Dosierungen, alt und neu … die «neuen» Aspekte Jaja, natürlich VUKA. Um niemanden zu langweilen, zeige  ich das nur kurz in vier Bildern: Volatilität  – nach jedem Gipfel kommt schnell eine neue  Welt mit geänderten Anforderungen. In dieser Form ist das  eine völlig andere Umgebung als die stabilitätszentrierten   Jahrzehnte der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Unsicherheit  – wer hätte 201 gedacht, dass Twitter  staatstragend würde…. ≠me-nicht im Vorfeld. Und Unsi- cherheit zu formulieren (oder zuzugeben), ist nichts, was bis  vor ein paar Jahren von Fachleuten gern getan wurde.  Komplexität  – wenn Ursache/Wirkung nur im Rückblick  zu klären ist. Ein fast gruseliger Gedanke. Zu wissen, nicht  genau zu wissen – der Umgang mit Nicht-Wissen wird zur  Schlüsselkompetenz. Ambiguität  – besonders der Aspekt der  Mehrfachlesbar- keit erscheint mir spannend – das Neue noch nicht interpre- tiert und der gemeinsame Kanon immer weniger verläss- lich… Z.B. Handy in der Schule und der Welt – Löser aller  Eliten- und Wissensprobleme oder Untergang des Menschen  Agilität: Alter Wein, nur neue Schläuche?  Veronika Lévesque bezeichnet ihre Arbeit gerne als Gestaltung  eines Bühnenbilds. Lesen Sie bitte diesem Sinne ihren  Blogbeitrag auf www.agile-verwaltung.org zum Thema, ob agil  eigentlich nur ein aktueller Hype ist oder mehr zu bieten hat. Veronika Lévesque Alter Wein, nur neue Schläuche?


Veronika Lévesque als soziales empathisches Wesen?.  In der ZEIT vom 02.12.18 war zu lesen:  „Manche fordern die Wiederkehr eines klassischen Wis- senskanons mit Werken, die jeder kennen muss; ande- re wollen vor allem das vermitteln, was Menschen am  stärksten von Maschinen unterscheidet, also Kreativität,  Teamwork und Sozialkompetenz. Einige beharren, dass der  Schlüssel zur Welt in Schiller oder Kafka zu finden ist. An- dere bestehen darauf, dass das digitale Verständnis schärfer  wird und man Programmiersprachen kennt. Oder muss das  alles zusammengehen? Und was ändert sich dann also in  Schulen und Hochschulen?“ Die VUKA-Aspekte und ihre verschiedenen Konsequenzen  führen dazu, dass sich die Umwelt, in der wir arbeiten, teil- weise grundlegend verändert – plötzlich werden Dinge in  Frage gestellt, die über Jahrzehnte oder gar länger als gültig,  wichtig und richtig galten. Und diese Veränderungen in der  Umwelt kommen näher und näher an  Organisationen, Führungskräfte, Mitarbeitende… .  Menschen und Gesellschaft beginnen, diese unmittelbar zu  spüren. Die Schullandschaft ist ja nur scheinbar nicht von VUKA-As- pekten betroffen. Schule und Hochschule bereiten auf eine Be- rufswelt vor, die vor gewaltigen Herausforderungen steht - hat  das aber noch nicht zentral auf der eigenen Agenda. Dass an  Berufsschulen viel mehr die Frage nach Veränderung auftaucht  ist für mich nur schlüssig. Die VUCA-Aspekte der Berufswirk- lichkeit außerhalb der Schule stellen viel direkter die Fragen  auch innerhalb der Ausbildung. An allgemeinbildenden  Schulen und in vielen Studiengängen an Hochschulen ist die  Berufspraxis gedanklich noch weit weg, obwohl sie dringend in  die Köpfe gehört, um die richtigen Haltungen und Methoden  darauf zu finden. (Otto Kraz) Agile Haltungen und Methoden treten an und nehmen für  sich in Anspruch, Handlungsoptionen zu bieten, die mit  solchen «neuen» Aspekten umgehen können. die «nicht-neuen» Aspekte Was sind die Grundwerte des «Agilen» in ganz kurzer  Form? Alter Wein, nur neue Schläuche? Ist das Kunst oder kann das weg?


der «nicht-neu-und-doch-wertvolle-Aspekte»-Test   Oder: Ist Agilität eine Cuvée bekannter hochwertiger  Partien?  Cuvée bedeutet: „Gemeint ist entweder das gemeinsame Keltern oder … das  spätere Verschneiden von Weinpartien unterschiedlicher  Rebsorten oder Lagen. (…) Das Verschneiden von Weinen  zu einer Cuvée hat ursprünglich den Sinn, die  Qualität des fertigen Produkts zu erhöhen. (…) Ein weiterer  Grund kann die konstante Qualität und ein konstanter  Geschmack über mehrere Jahrgänge hinweg sein. (…) Dies  geschieht aber immer mit Vorverkostungen der Verschnitt- anteile in kleinen Probenreihen, damit das Ergebnis senso- risch beurteilt werden kann.  Eine optimal zusammengeführte Cuvée schmeckt besser als  jede Partie für sich. Die Eigenschaften der einzelnen Partien  (…) ergänzen einander dabei zu einem harmonischen  Ganzen.“  Jetzt kommt’s… Entgegen verbreiteter Vorurteile kann das agile Framework  etwas eher Unerwartes beitragen: Agilität kann bekannten, aber oft „unterver-sorgten“ Aspekten einen strukturellen und syste-matischen rahmen geben. Agil ist weder neu, noch originär, noch total anders. Es ist  auch nicht das Aufgeben aller Planung, Struktur und Rah- mung zugunsten von spontan-willkürlichem Ausprobieren  mit Fühl-mich-spür-mich-Groove, wie manchmal behauptet  wird.  Was agile Haltungen und Methoden leisten können,  ist, dass sie wichtige Blickwinkel und Aspekte als faktische  Bausteine oder Gefässe benennen und priorisieren und fest  in Methoden und Prioritäten zu integrieren verstehen.  Aspekte wie: - Anpassung an Änderungen oder an Unerwartetes - die akute Situation mit ihren realen Möglichkeiten mehr       als  einen Absolutheitsanspruch von Fachstandards - das Sichtbarmachen von Arbeit und Ideen und das kollek    tive Nutzen von sog. Fehlern als Ressource - den Einbezug von Anspruchsgruppen, Nutzern, Kunden     oder anderen in der Organisationsstruktur nicht automa    tisch anwesenden Parteien - Raum zum Ausprobieren und Entwickeln alternativer      Wege und spezifischer Varianten - Ko-Kreation, Kooperation und Interaktion und deren      Wert als zentrale und sichtbare Werkzeuge - Menschen mit ihren Motivationen, Angeboten, Ressour    cen, Kompetenzen, Ideen … – all das sind im agilen Denken nicht Abweichungen von  der geplanten theoriebasierten Ideallinie und damit uner- wünscht. Es sind nicht «nur» Werte, die unter Umständen  schwer greifbar und schwer operabel zu machen sind. Sie  sind in den Methodiken und Konzepten als Instrument und  Ressource sicht- und nutzbar eingebaut. Solche elementaren Aspekte von Mensch und Arbeit sind  in Organisationen und ihren Strukturen, in OE, Arbeits- forschung, Betriebswirtschaft und im Bildungswesen schon  lang bekannt. Sie kippen aber,  als «weiche Faktoren» dekla- riert, schnell mal von der Tischkante zugunsten von Zahlen,  Plandaten, KPI und TaskForces. - Weil sie nur schwer in eine objektive Rechenschaftslegung      passen.  - Weil sie nicht, oder nicht so, oder höchstens anders,        messbar und darstellbar, geschweige denn publizierbar      sind. (Als Beispiel gelte die Diskussion, wie der Unter      nehmenswert eines Wissenunternehmens bilanziert     werden können sollte…).  - Weil sie nicht als ‚Best Practice‘ oder Standard übertragbar     oder einfach skalierbar sind und sich für individuelle Ein- Alter Wein, nur neue Schläuche?


9 zelfälle der Aufwand nicht zu lohnen scheint – wir denken in  grösseren Einheiten und Systemgrenzen und können nicht  den einzelnen Mensch in den Mittelpuntk stellen; schliess- lich sind wir hier um zu arbeiten…. .  - Weil man sie nicht als Rezept einkaufen – oder verkaufen      kann.  - Weil sie Zeit brauchen und unter Zeitdruck höchstens      noch als lästig, aber nicht mehr als wichtig empfunden      werden.  - Weil mikropolitisch versierte Machiavellisten gerne dafür      sorgen. Wir arbeiten vielfach in einer Vorgaben- und Planerfüllungs- logik. Und merken dabei auf allen Hierarchieebenen, dass  das unseren Produkten nicht nur gut tut. Hier eine Aussage  eines Managers dazu: «Wir wenden die Weisungen und Richtlinien an. Selbst,  wenn die Prozesse sichtlich nicht wirklich zu dem passen,  was da vor uns auf dem Tisch liegt. Sie geben uns nämlich  die Sicherheit und die Rechtfertigung, sicher nichts falsch  gemacht zu haben. Denn wir haben uns ja an Fachstandards  und Vorgaben gehalten. Man kann uns also zumindest  nichts vorwerfen.» Auf die Schule übertragen heißt das schlicht: «Wir wenden die  Weisungen und Richtlinien an. Selbst, wenn die Lehrpläne  nicht wirklich zu dem passen, was da bei unseren Schüler/innen  im Moment angesagt wäre. Sie geben uns nämlich die Sicher- heit und die Rechtfertigung, sicher nichts falsch gemacht zu  haben. Denn wir haben uns ja an Fachstandards und Vorgaben  gehalten. Man kann uns also zumindest nichts vorwerfen.»  Otto Kraz Rechtfertigung, Fehler- und  Vorwurfsvermeidung, Regel- konformität und Sicherheitsbedürfnisse sind in solchen  Momenten handlungsleitender als situationsadaptiert und  produkttreu zu handeln. Und der Einschätzung der Fachper- sonen ihren Wert zu geben und zu vertrauen. Prozesse und Standards wiegen mehr als die gegebene Sach- lage, das gewünschte Produkt und die in ihr handelnden Ex- pertinnen und Experten. Wollen wir das? Können wir das? Für mich geht es nicht um die Frage, ‚ganz total agil‘ oder  eben nicht. Es geht darum, in bestimmten Situationen und  Umfeldentwicklungen – seien es individuell kleine vor Ort  oder gesamtgesellschaftliche, technologische etc. grössere in  Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – Handlungsoptionen  zu haben. Werte- und Methodendikussionen zu führen  und adaptive adäquate Lösungsansätze zu finden – immer  wieder. Es gibt keine allgemeingültigen Rezepte – weniger  denn je. Und um ein kollektives Selbstbewussten wiederzu- erlangen, das dem Primat von Rezepten, sog. ‚best practices‘  und übermächtigen Standards gegenüber bestehen kann,  brauchen wir auch Werte und Methoden, die hier ihren  Schwerpunkt setzen. Und die im passenden Fall eingesetzt  werden können. Agilität: Alter Wein in neuen Schläuchen?  Nur Marketing? Nur neue Schläuche? Nur ein neues Buzz- word, mit dem sich Geld verdienen lässt? Nein. Gipfel der Innovation? Allheilmittel? Eierlegende Wollmilch- sau ? Ei des Kolumbus? Neue Welt, die nur als komplette  Leitkultur funktioniert und keine anderen Götter neben sich  dulden sollte? Auch nicht.  Mir gefällt das Bild der Cuvée.  eine raffinierte Kombination hochwertiger grundstoffe.   Alter Wein, nur neue Schläuche? Foto: jlevesque.photo@gmail.com


10 Wir haben intuitiv eine klare Vorstellung davon, was gute  Zusammenarbeit ist: Ein gemeinsames Ziel und Engage- mentbereitschaft bei allen, Kritikfähigkeit und gegenseitige  Unterstützung, kreatives Eingehen aufeinander und Bereit- schaft, auf Vorschläge anderer einzutreten, unter Berücksich- tigung der Ideen aller entscheiden, was als nächstes kommt,  usw. Nach rund 10 Jahren intensiv experimentieren, reflektieren,  diskutieren, lesen, schreiben und schliesslich Kurse gestalten  zum Thema agile Didaktik ist mir klar geworden, dass sich  im besten Sinne des Wortes «agile» Didaktik auf die schlichte  Formel bringen lässt:  Sie ist Zusammenarbeit.   Gute Zusammenarbeit von Lehrenden mit Lernenden  (soweit diese Unterscheidung und Begrifflichkeit dann noch  Sinn macht, doch lassen wir die Frage der Wörter an dieser  Stelle noch auf sich beruhen). Betrachten wir, der Einfachheit und Kompatibilität mit dem  bestehenden Bildungssystem halber, das Ziel als gegeben:  Es ist eben ein Tag oder Modul, in dem die Programmier- sprache Python erlernt werden soll (bzw. deren Grundprin- zipien) oder die Fähigkeit vertieft, Feedback entgegenzu- nehmen, oder Chor dirigieren, oder was auch immer. Das  Ziel sei jedenfalls gegeben. Nun macht es in vielen Fällen  durchaus Sinn, dass da eine Person ist, die das kann und  die idealerweise sogar einige Ideen und noch besser darüber  hinaus Erfahrung darin hat, wie Menschen genau das lernen  können. Aber auch wenn oder eher gerade dann macht es  doch Sinn, dass Ideen der Lernenden, was ihnen als näch- sten Schritt helfen würde, mit einfliessen bei der Gestaltung  des Lernprozesses. Und es macht Sinn, dass die «lehrende»  Person im Verlaufe des gesamten Lehr-/Lernprozesses genau  wahrnimmt, was die Lernenden jeweils schon können und  das Vorgehen fortlaufend ihrem Lernprozess anschmiegt  – also nicht etwa dasselbe in derselben Art weiter übt, was  schon gut funktioniert oder Dinge anregt bzw. vorträgt, mit  denen die Lernenden – aus welchen momentanen Gründen  auch immer – nichts anfangen können. Und das kann sich  ja von Gruppe zu Gruppe, ja sogar nach Tagesform und  Befindlichkeiten ändern. Also: Agil. Koproduktiv. Mehr gibt es dazu im Grunde genommen nicht zu sagen  – und eben diese Erkenntnis, dass das schon alles ist,  überrascht mich, nachdem ich ein Buch über agile Didaktik  geschrieben habe, ohne das so explizit zu realisieren. Man  mag das peinlich finden; es ist auch ein bisschen peinlich,  doch leiste ich mir die «Peinlichkeit», zu lernen, zu ent- decken und forschen zu dürfen. Denn peinlich ist hier ja  eigentlich nur, dass ich es nicht wusste, bevor ich es erkannte.  Nichtwissen wird als Schwäche definiert – vielleicht auch  ein Ergebnis von «Schule». Nichtwissen – insbesondere  bewusstes Nichtwissen – ist allerdings äusserst lernförderlich,  weil Fragen und Interesse produzierend. Lernhinderlich sind  Atmosphären und Menschen, bei denen Nichtwissen – das  der anderen und/oder das eigene – versteckt werden müssen. Also, nochmals mutig:  ich habe es wirklich nicht  gemerkt, dass es im grunde so einfach ist. Nun ist es natürlich einfach im Sinne von  «simple, not easy» . Es braucht dann eben doch einiges,  damit genau diese Lern-Lehr-Zusammenarbeit gelingen  kann. Das, was es meiner Einschätzung nach braucht dafür,  möchte ich nun benennen. Doch bestehe ich darauf, dass sie  bloss deswegen, weil es einiges braucht, nicht doch wieder  kompliziert ist, die gute, agile Didaktik. Nein, sie ist nicht  kompliziert, sondern es ist primär eine Entscheidung, sich  auf Zusammenarbeit einzulassen. Ja, es ist und bleibt so  einfach, und gerade darum gibt es keine Ausreden:  gute Bildung ist schlicht Zusammenarbeit. Nun, nach meiner breiten Erfahrung und sorgfältigen  theoretischen Untersuchung situativer Didaktik sind es  drei Dinge, die im besten Sinne des Wortes agile Didaktik  ausmachen: - ein klares Ziel- fortlaufende Wahrnehmung des Stands der Annäherung    an dieses Ziel- gute, hilfreiche ideen für das lernen selbst, Schritt für    Schritt Zwar gibt es auch andere Dinge, die wichtig sind – doch  ergeben sich diese oft mit bzw. von selbst, wenn auch nicht  immer. Vor zu viel Vereinfachung sei gewarnt, doch diese  drei Dinge sind es, an denen es sich ganz besonders lohnt,  sich zu orientieren. Apropos Orientierung: Ein klares Ziel gibt Orientierung.  Gute Bildung ist schlicht Zusammenarbeit        Christof Arn Sehr spannend für mich wird es, wenn ein Wissenschaftler wie  Christof Arn, der 8 Jahre lang agile Didaktik an der Univer- sität in Luzern untersucht und darüber auch ein Buch beim  Beltz Verlag veröffentlich hat, für unser Heft hier seine ‚Ergeb- nisse herunterbricht auf die scheinbar einfache Formel  „Gute Bildung ist schlicht Zusammenarbeit.“ Gute Bildung ist schlicht Zusammenarbeit


11 Für situative Didaktik brauche ich ein sosehr klares Ziel,  dass ich, wenn ich mir zwei oder mehr verschiedene Mög- lichkeiten vor Augen halte, wie wir nun weiter zusammen- arbeiten könnten (z.B. in Gruppen oder im Plenum, lesen  oder üben, usw.) innerhalb von Sekunden entscheiden kann,  was uns diesem Ziel besser näher bringt. Solche Orientie- rung bietet die Art und Weise, wie Lernziele in aller Regel  leider in Präparationen oder Modulbeschrieben formuliert  sind, typischerweise nicht. Wenn ich, wie z.B. in Fachhoch- schulen üblich, in einem Modulbschrieb, geordnet in die  vier Formularfelder «Fachkompetenzen», «Methodenkom- petenzen», «Sozialkompetenzen» und «Selbstkompetenzen»  je zwei bis vier Teilziele eingetragen sehe, so ergibt das ein  Sammelsurium von rund einem Dutzend mehr oder weniger  zusammenhängender «Dinge», die da zu lernen wären – die  dann als Ganzes eher verwirren als orientieren. Nein, für  Gute Bildung ist schlicht Zusammenarbeit 2019


1 eine gute agile Didaktik (und eigentlich auch für eine taug-liche, wenig agile Plandidaktik) benötige ich  ein (1) Ziel.  Wo will ich am Ende der Zusammenarbeit mit meinen  Lernenden stehen? Das bitte in einem einzigen Satz oder  noch kürzer, v.a. prägnant und idealerweise be-geisternd,  weil es meinem Engagement in der Sache, für die ich als  «LehrendeR» ja hoffentlich nicht zufällig stehe, entspricht.  Was ist mir wichtig?  Das herauszufinden und sachadäquat  in Worte zu fassen ist nicht trivial, sondern zugleich  analytisch und kreativ. Ich kann das nicht einfach so. Ich  übe das. Und muss oft drüber schlafen und manchmals  braucht es mehrere Tage, bis ich eine solche Zielformulie- rung habe. Wenn ich sie aber habe, macht es echt Freude  und bringt ganz schön Energie in die Sache. Nun, um auf dieses Ziel hin überhaupt loslaufen zu können,  muss man wissen, wer was schon kann, wer welche  Erfahrung mitbringt, welche Motivationen usw.  Kurz: Wo man steht. Ich bin leidlich guter Kartenleser – sobald ich auf der Karte  weiss, wo wir sind. Fehler entstehen bei Wanderungen mit  der Karte genau dann, wenn wir meinen, woanders zu sein,  als wir sind. Oder einfach gar nicht wissen, wo wir sind  – dann nützt die Karte plötzlich sehr wenig. Und dann  lohnt sich der Aufwand, erst mal das herauszufinden. Genau  so ist es bei der Lernzusammenarbeit. Das gilt nicht nur für  den Start, sondern «laufend».  Wenn ich als «LehrendeR» die Letztverantwortung für den  Prozess habe, brauche ich Methoden, um herauszufinden,  wo die Lernenden stehen, und zwar immer wieder. Drei  Methodengruppen sehe ich:-  Fragen .  Also, das geht so: «Wo steht Ihr gerade?» (oder,    je nach Kultur «Was ist jetzt ! klar, was unklar?» oder       nochmals eine andere Formulierung, aber immer derselbe     Inhalt der Frage.) Untauglich hingegen ist die Frage: «Gibt     es Fragen?» - Produzieren  (lassen): Einen Auftrag geben und den     Stand des Lernens am Ergebnis ablesen. (Interessant also,     dass handeln/experimentieren/«tun» nicht nur wichtig ist,     weil Kompetenzerwerb ohne unmöglich ist, also für die     Lernenden, sondern auch für die Lehrenden ist es wichtig,     Ergebnisse sehen zu dürfen – so die Lehrenden         denn interessiert sind, daraus Erkenntnisse für die Weiter- gestaltung des gemeinsamen Prozesses zu gewinnen.) - intuition:  Man hat so gut wie immer ein Gefühl dafür,     wie gut man gerade unterwegs ist und ob es passt, so wei    terzumachen oder eben nicht und man etwas         (was, wäre dann noch herauszufinden) ändern sollte. Diese     Intuition kann täuschen – aber das kann der Gehörsinn     oder das Auge auch. Deswegen hören wir ja nicht auf, zu     hören und auch nicht, zu sehen. Nein, wir schärfen und     trainieren eben Ohr und Auge, gerade indem wir sie einsetzen      – und genauso ist es mit der Intuition – insbesondere       dann, wenn man sich bewusst ist, dass sie täuschen       kann. Also: intuition trainieren. Nun zum letzten dieser drei: gute, hilfreiche Ideen für das  Lernen selbst. Man kann dies auch als «Methodenrepertoire»  bezeichnen, und das ist auch gemeint, allerdings nicht nur.  Es ist gemeint, viele mögliche Trainingsspiele, Fachtexte,  Mikroinputs, produktive Arbeitsaufträge usw. im Köcher  zu haben – aber eben nicht nur das, sondern auch die  Fähigkeit, diese spontan anzupassen, zu kombinieren, sogar  welche neu zu erfinden. Aus dem Moment heraus. Das hat  übrigens auf einem fortgeschrittenen Level mehr mit  Offenheit und Entspannung zu tun als mit Anstrengung,  doch macht es gerade das nicht unbedingt einfacher, sich  hier zur Profistufe zu entwickeln. Doch auf welcher Stufe  auch immer: Meist ist das eigene Repertoire grösser, als man  denkt. Also geht Lern-Lehr-Zusammenarbeit so: Wir verständigen  uns über das Ziel (gewisse Differenzen sind völlig ok, sogar  interessant, Hautpsache, wir kommen gemeinsam zur Über- zeugung, dass wir das jetzt mal als gemeinsame Reise sehen  wollen) – wir nehmen fortlaufend wahr, wer wo steht – und  wir entwickeln fortlaufend den guten, nächsten Schritt,  immer gut orientiert auf das klare, zugkräftige Ziel. Einfach machen. Es geht. Und dann geht’s mal wieder nicht  – das ist bei jeder Didaktik so. Daraus lernt man. Schnappt  sich eineN IntervisionspartnerIn oder zwei, um noch  schneller agile Didaktik zu lernen. Kurse und Bücher, wie  auch immer – Internetseiten. doch am meisten lernt man  als lehrende von den lernenden, vor allem, wenn man mit ihnen in Kontakt auf Augenhöhe steht. Gute Bildung ist schlicht Zusammenarbeit


1 Gute Bildung ist schlicht Zusammenarbeit


1 Eher zufällig bin ich auf Scrum gestoßen, weil ich im  Internet nach neuen Managementmethoden gestöbert habe,  um meinen Lehreralltag zu optimieren. Ich unterrichte  die Fächer Musik und Religion an einem Gymnasium bei  Hannover und nebenbei gesagt: Ich bin ja sowieso dafür,  dass Lehrer in ihrer Ausbildung im Management geschult  werden sollten, weil man als Lehrer irgendwie auch Manager  ist. Aber das ist ein anderes Thema. Von Scrum jedenfalls  war ich sehr schnell begeistert. Eigentlich hat das ja auf den  ersten Blick nichts mit Schule zu tun, über eduScrum bin  ich erst viel später gestolpert. Aber je intensiver ich mich  mit diesem agilen Framework beschäftigt habe, desto mehr  dachte ich: so müsste doch Unterricht sein. Warum? Davon  möchte ich im Folgenden berichten. Jede Marketingabteilung weiß: Der richtige Mix aus  Bekanntem und Neuem, welcher außerdem einen Mehr- wert hat, verkauft sich am besten. Und so war es bei mir  mit Scrum, was ja eben keine neue Methode sondern ein  Rahmenwerk darstellt. Für mich ist Scrum eine Art Koffer  für Teams, die gemeinsam ein Ziel erreichen wollen. Dieser  Koffer enthält Profiwerkzeug und eine Anleitung, wie und in  welcher Reihenfolge man dieses Werkzeug am sinnvollsten  einsetzt. Er ist klein und handlich. Man kann ihn überall  mit hinnehmen und überall zum Einsatz bringen – muss  es aber nicht. Und dann bietet er sogar die Möglichkeit,  Werkzeuge auszutauschen, zu ergänzen oder altes Werkzeug  mit neuem zu kombinieren. Ein „agiler Koffer“ eben. Dabei  ist das meiste Werkzeug jedem Lehrer längst bekannt:  Visionen, Zielsetzung, Projektarbeit, Teamarbeit, Zeitfen-ster, Planung, erarbeitung, evaluation. Jeder Lehrer hat Visionen, sonst könnte er gleich zu Hause  bleiben oder sollte ich sagen, sonst müsste er zum Arzt  gehen? Bestenfalls ist die Vision auf den Schüler bezogen  und möchte das Bestmögliche aus ihm herauszuholen.  Schlimmstenfalls strebt man vielleicht eine Unterrichts- routine an, die den Schüler übersieht und nur einen mög- lichst geringen Aufwand im Blick hat – in einem solchen  Fall würde sicher auch eine statisch routinierte Anwendung  von Scrum im Unterricht ordentlich nach hinten losgehen. Chancen: Wie ich zu Scrum gekommen bin Scrum doch mal Tobias Kanthak Die meisten, die schon einmal von „agil“ gehört haben,  verbinden damit Scrum. eduScrum ist eine Idee, die Willy  Wijnands schon vor Jahren in seinen Unterricht geholt hat.  Tobias Kanthak hat sich für diese Idee begeistert, sie selbst ein- fach einmal ausprobiert, um sich dann in eduScrum  professionell trainieren zu lassen. http://eduscrum.nl/de/ 


1 Tobias Kanthak Projektarbeit haben wir auch schon alle gemacht.  Das Produkt ist dann eine Schulveranstaltung, eine Schüler- zeitung, ein Plakat oder einfach nur die Schülermappe, eine  Klassenarbeit usw. Die meisten Lehrer planen ihren Unterricht und dies  manchmal sogar mit ihren Schülern gemeinsam. Teamarbeit  heißt in der Schule Gruppenarbeit, Timeboxen, also Zeit- fenster, gibt es auch immer und natürlich präsentieren die  Schüler ihre Produkte in der Form eines Gruppenergebnisses  oder eben einer Klassenarbeit, die vom Productowner, also  dem Lehrer, überprüft werden und vom Schüler berichtigt.  Wenn es gut läuft, macht man meistens auch noch eine  Unterrichtsevaluation, eben eine Retrospektive. Scheinbar also nichts Neues? Und doch wollte ich diesen  „agilen Koffer“ unbedingt haben und unbedingt zum Einsatz  bringen. Er enthält eben nur scheinbar nichts Neues, denn  die einzelnen Werkzeuge sind optimal komponiert und man  weiß plötzlich auch genau, wann und wie man sie am besten  einsetzt. Bei genauerem Hinsehen ist jedes Werkzeug eben  doch genial anders, neuwertig, innovativ. Ich habe gespürt,  dass ich endlich einen „Koffer“ gefunden haben könnte, der  mir hilft, all die verschiedenen, wohl bekannten Anforde- rungen des Lehrerberufs zu meistern, ohne irgendwann als  Workaholic mit Burnout frühzeitig in den Ruhestand zu  gehen. Um nur einige Schlagwörter zu nennen:  Wie bringe ich bspw. Kompetenzorientierung, Persönlich- keitsentwicklung, Unterrichtspensum, Differenzierung,  Inklusion und jetzt auch noch Digitalisierung unter einen  Hut? noch mehr Chancen: Was mich an Scrum beson-ders angesprochen hat Neben vielen Aspekten möchte ich drei hervorheben, die  mir persönlich besonders wichtig geworden sind:  iterationen, Teamarbeit, eigenverantwortung. Erstens hat mich der iterative Gedanke überzeugt. Eigentlich  ist es eine Binsenweisheit, die längst durch die Hirnfor- schung belegt ist: Wir lernen durch Wiederholung. Doch  musste ich mir eingestehen: nur, weil ich häufig von dem  vielen Unterrichtsstoff so getrieben war, kam die Wiederho- lung leider oft zu kurz. Und außerdem macht es viel Arbeit,  wenn man zum Beispiel Berichtigungen einsammelt und  korrigiert. Und merkwürdigerweise fehlt in Schule auch  noch häufig die Motivation zur Wiederholung. Es ist eher lä- stig. Wer aber kleine Kinder beobachtet, der weiß, dass diese  glücklicherweise noch nicht den agilen Grundsatz verlernt  haben, der in uns steckt, für den uns aber häufig die Muße  oder der Mut fehlt. Kinder machen alles immer und immer  wieder, bis es richtig sitzt und sind dabei enorm effektiv und  effizient. Sie leben den Kreislauf, der im agilen Management  Plan-do-Act-Check  heißt. Ich dachte immer, dafür ist keine Zeit. Aber nun habe ich  nach kurzer Zeit mit Scrum im Unterricht erfahren dürfen,  dass das Gegenteil der Fall ist. Das iterative Arbeiten, was in  Scrum in Sprints organisiert ist, spart vielmehr Zeit. Zweitens schaffe ich mit Scrum beste Voraussetzungen  für die Entwicklung und Stärkung der Persönlichkeit und  Teamfähigkeit der Schülerinnen und Schüler, weil Scrum  Teamarbeit optimiert. Gerade hier sehe ich die häufig und  regelmäßig wiederkehrende Retrospektive als eines der  gewinnbringendsten Ereignisse an. Was für mich aber der wichtigste Punkt ist: Mit Scrum  nehme ich konsequent den Schüler in die Verantwortung.  Wenn man so möchte, wird hier der Paradigmenwechsel der  Schülerorientierung realisiert, der den Lehrer weniger als  Scrum doch mal


1 Vermittler und mehr als Lernbegleiter sieht. Dieser pädago- gische Ansatz ist uns ja allen bekannt und wir orientieren  unseren Unterricht doch bereits daran. Aber manchmal  gelingt die Umsetzung vielleicht noch nicht konsequent  genug, weil wir ja u. a. nicht nur einen Schüler haben und  gute Differenzierung doch soviel Arbeit macht. Gerade  bei diesem Thema finde ich im „agilen Koffer“ ungeahnte  Möglichkeiten. Ich kenne derzeit keine bessere Möglichkeit, soziale Kom- petenzen wie Teamfähigkeit und Konfliktlösung zu fördern  und dabei die Schülerinnen und Schüler zu eigenverantwort- lichem und selbstorganisiertem Lernen anzuleiten. Dabei  ist Scrum von Natur aus differenzierend (Pull-Prinzip) und  bietet die Möglichkeit, die Kompetenzentwicklung zu fokus- sieren, ohne dabei die Inhalte aus dem Blick zu verlieren. Herausforderungen Und ist nun alles gut? Theoretisch könnte man Scrum oder  Teile daraus auch sehr lehrerzentriert umsetzen. Etabliert  man jedoch Scrum als eine Art des offenen Unterrichts,  begegnet man entsprechenden Herausforderungen wie  sie von derartigen offenen Konzepten bekannt sind. Zwei  möchte ich nennen: Da wäre einmal die Frage, nach der  Bewertung. Hierzu gibt es jedoch bereits viele gute Wege in  altbekannter Literatur zu Projektarbeit in der Schule. Dieser  Frage muss man sich jedoch frühzeitig stellen, sonst kann  schnell Unmut aufkommen, wenn altbekannte Strukturen  aufgebrochen werden und sich die Schülerinnen und Schüler  plötzlich im luftleeren Raum wieder finden.  Eine zweite Herausforderung ist, dass viele Schülerinnen  und Schüler – zumindest ist das meine Erfahrung – geradezu  darin konditioniert sind, „beschult“ zu werden und eine un- gewohnte Eigenverantwortung vor allem bei sehr leistungs- starken Schülerinnen und Schülern nicht selten Unsicherheit  hervorruft.  Diese sind es gewohnt, einfach genau das zu  tun, was der Lehrer sagt, um möglichst sehr gute Noten  zu erzielen. Ein Selbstläufer wird es jedoch meistens dann  – und das ist anderswo ja genau so – wenn es gelingt, den  Schüler mit der Sache persönlich zu verstricken. Wie sieht das jetzt konkret in der Praxis aus? Ich sehe extrem viele Möglichkeiten, den „agilen Koffer“  Scrum im Unterricht zum Einsatz zu bringen. Zwei möchte  ich kurz skizzieren. eine komplette Unterrichtssequenz als Scrum-ProjektKeines meiner bisherigen Scrumprojekte verlief gleich – ganz  im agilen Sinne. Ein grober Fahrplan könnte jedoch so  aussehen. Schritt 1: implementierungIch lasse meine Schüler das Airplane Game spielen und gebe  ihnen anschließend ein paar grundlegende Informationen  zu Scrum. Danach hat meistens eigentlich jeder Lust, im  Unterricht in dieser Form weiter zu arbeiten. Schritt : PlanungAnschließend führe ich in das Thema ein. Das ist natürlich  extrem sensibel, denn hier geht es um die Motivation für  die Sache, die möglichst lange anhalten sollte. Die Kompe- tenzen, die von den Schülerinnen und Schülern erworben  werden sollen, verstehe ich als übergeordnetes „Produkt“.  Das sage ich meinen Schülern auch so. Dann werden Teams  gebildet. Natürlich könnte man den Schülerinnen und  Schülern jetzt ein Produkt vorgeben. Meistens habe ich  sie jedoch selbst eine zum Thema passende Produktvision  entwickeln lassen.  Schritt 3: erarbeitungDann arbeiten die Teams mit Scrum an ihrem Produkt. Ich  schaffe pro Thema 2- Sprints. Schritt  und 5: Abschluss Das Projekt wird mit dem letzten Review und der letzten  Retrospektive abgeschlossen. Hier habe ich zu Anfang nur  interne Retrospektiven in den Teams machen lassen. Jetzt ist  mir eine große Retrospektive mit der ganzen Klasse enorm  wichtig geworden, die nach jedem Projektthema folgt. Bevor  ich Scrum gemacht habe, habe ich mir meistens nur am  Ende des Schuljahres so richtig Zeit für eine Unterrichtse- valuation genommen oder eben, wenn sie aufgrund von  Problemen notwendig wurde. Davon haben jedoch in der  Regel nur die nachfolgenden Klassen etwas. Jetzt evaluiere  Scrum doch mal


1 ich dank der Retrospektiven in Scrum -4 Mal pro Schuljahr  und es ist keine vergeudete sondern gewinnbringende Zeit. Scrum in nur 90 min Zum Einstieg kann ich nur empfehlen, Scrum einfach mal  in nur einer Unterrichtsstunde auszuprobieren. Ich dachte  mir: Was mit dem Airplane Game geht, müsste auch mit  einer Musikanalyse funktionieren: Meinen Musikkurs eines  11. Jahrgangs habe ich in Teams eingeteilt und ihnen die  Aufgabe gegeben, gemeinsam einen Analysetext zu einem  Musikstück zu verfassen.  Zeitlich habe ich einen Sprint in 2 Minuten Planung,   Minuten Erarbeitungszeit,  Minuten Review und   Minuten Retrospektive gegliedert. Nach Ablaut der  Minuten Erarbeitungszeit mussten die  Schülerinnen und Schüler ihren fertigen Text per Mail an  mich verschickt haben, sonst wurde er nicht mehr angenom- men. Folien funktionieren natürlich genau so. Im Review  wurde der Analysetext für alle sichtbar projiziert und kurz  kommentiert. Nach der anschließenden Retro in den Teams,  folgte der nächste Sprint. Wenn man gut reduziert, schafft  man so -4 Sprints in 90 min. Und was beim Airplane  Game gilt, wurde auch hier sichtbar: bessere Ergebnisse in  kürzerer Zeit. Bei herkömmlicher Gruppenarbeit, kommen  doch viele Gruppen nicht in Gang oder arbeiten für den  Papierkorb. Um das zu vermeiden, geht der Lehrer die ganze  Zeit herum, hilft und korrigiert. Nicht so bei Scrum in nur  90 min: Spätestens nach dem zweiten Sprint haben sich alle  Teams aufgerappelt. In den Reviews sehen alle die Ergebnisse  der anderen Teams und haben dadurch ein viel effektiveres  und motivierenderes Korrektiv als den von Team zu Team  stiefelnden Lehrer. Ich kann nur raten: einfach mal ausprobieren und wenn  es nicht gleich funktioniert, eine Retro machen und gleich  noch mal versuchen!  Zukunftsvision Bei all den positiven Erfahrungen, die ich nach bereits  kurzer Zeit mit Scrum in der Schule machen durfte, ist es  mir ein Anliegen, meine Vision von einer vollständig agilen  Schule zu formulieren, eine Schule, in der Schüler,  Kollegen, Mitarbeiter und Schulleitung gemeinsam in Teams  ihre eigenen Visionen mit der Hilfe von Scrum o. ä. zur  Zusammenarbeit nutzen. Tipp:  Wer mehr über meinen Ansatz erfahren möchte,  dem sei unser Podcast ans Herz gelegt, den ich gemeinsam  mit meinem Kollegen André Pittelkau gestartet habe. Ein- fach mal reinhören: http://alles-agil.de/   Scrum doch mal


1 Die von mir pointiert verlängerte, Helmut Schmidt („eine  pampige Antwort auf eine dusselige Frage“) zugeschriebene  Aussage erfährt im Kontext der Debatte um Agilität im  Schulleitungshandeln eine interessante und konstruktive  Wendung.  Gemäß der Scrum-Theorie beginnt jede Produktentwicklung  mit einer starken Produktvision. In dieser wird formuliert,  warum das Produkt überhaupt entwickelt wird. Und sie  beschreibt den erwünschten Zielzustand. Aus der Produkt- vision speisen sich einerseits die Epics, Userstories und Tasks  und andererseits die Definition of Done. Alles zentral wich- tige Artefakte im Scrum-Prozess. Wer dabei jetzt an Leitbild,  Schulprogrammarbeit oder Unterrichtsentwicklung denkt,  der liegt – genau – goldrichtig! Was liegt also näher, als den  Schulentwicklungsprozess auf Scrum-Füße zu stellen?!  Hier mal ein ganz konkretes Praxis-Beispiel: Ich durfte ab  Herbst 2018 an (m)einem Berufskolleg einen neuen Bil- dungsgang entwickeln.  Am Anfang stand (m)eine Vision: Für kreative informatikinteressierte (Fach)Abiturienten, die auf  der Suche sind nach einer zeitlich kompakten praxisorientierten  und gut betreuten Berufsausbildung, legt die Ausbildung zum  VR/AR-Developer ein solides Fundament für vielfältige Berufs-  und Karrieremöglichkeiten in einer inhaltlich reizvollen und  technologisch spannenden Zukunftsbranche. Im Gegensatz zu  den (wenigen) bislang etablierten Ausbildungsgängen an  (Fach-)Hochschulen überzeugt das Ausbildungskonzept mit  einer großen Praxisnähe (man lernt, was man später im Job  braucht), mit handlungsorientierten Lern- und Arbeitsweisen  (so wenig Theorie wie nötig, so viele praxisbezogene Aufgaben  wie möglich) und mit der individuellen Betreuung durch  erfahrene Lernbegleiter (Dozentinnen und Dozenten mit prak- tischer Berufserfahrung in den Bereichen UX, Programmierung  und 3D). Der gute Kontakt zu vielen jungen Unternehmen  in einem aufstrebenden Geschäftsfeld eröffnet den Absolventen  vielfältige Chancen am Arbeitsmarkt. Diese Vision leitete ein Team von 4 Kolleginnen und Kol- legen durch das Entwicklungsprojekt: Ein Kollege kam aus  dem Bereich Markting/Vertrieb, die anderen drei vertraten  relevante fachliche Schwerpunkte wie Medientechnik, Web- Technik, D-Grafik, Interaktionsdesign, Storytelling oder  Programmierung. Die Rollen des Product Owners und des  Scrum Masters übernahm ich selbst, wohl wissend, mich da- mit ein wenig abseits der „reinen Lehre“ zu bewegen – aber  manchmal heiligt der Zweck die Mittel bzw. muss man aus  der (Personal-)Not eine Tugend machen. Bevor wir uns in  die Details vertieften, formulierten wir unsere Definiton of  Done, zu der wir uns vornahmen, sie im Review am Ende  jeden Sprints auf den Prüfstand zu stellen um sie ggf. anzu- passen (inspect and adapt eben):   „Definition of Done“? • Jedem Teammitglied sind alle relevanten Aspekte der erarbei    teten Lösung bekannt. • Jedes Teammitglied ist davon überzeugt, dass die erarbeitete     Lösung signifikant auf die Produktvision einzahlt. • Die erarbeitete Lösung steht grundsätzlich nicht im Konflikt           mit zentralen etablierten schulischen Prozessen und schulrecht    lichen Vorgaben. • Die erarbeitete Lösung ist umfassend dokumentiert, so dass     auch Nicht-Teammitglieder damit weiterarbeiten könnten. In einem weiteren Schritt wurden User-Stories entwickelt.  Eine User-Story beschreibt aus der Sicht eines Produkt- ‚Anwenders‘ eine wünschenswerte Produkt-‚Eigenschaft‘.  Hier mal einige Beispiele:    Story 1:   Als Studierende möchte ich in der Ausbildung mit der  aktuell gängigen Technik arbeiten, damit ich für eine spätere  Berufstätigkeit in diesem Bereich bestens gerüstet bin. Story :   Als Marketing-Verantwortlicher möchte ich konkrete  Beispiele für Kompetenzen kennen, die Studierende im Verlauf  der Ausbildung erwerben, damit ich bei der Darstellung des  neuen Bildungsgangs in den sozialen Netzwerken anschaulich  argumentieren kann. Wer Visionen hat sollte zum Arzt gehen –  oder agiler Schulleiter werden               Eckard Fischer Sie sagen sich vielleicht jetzt noch: Alles schönes Gerede, aber  gibt es denn schon irgendwo irgendjemand an den viele Schulen  dieses Landes, der sich agil aufgemacht hat und auch etwas  vorzuweisen hat?  Fangen wir doch einfach einmal an. Eckard Fischer ist stellver- tretender Schulleiter am bib - International College in Biele- feld. Und hat seine Masterarbeit über agiles Leiten einer Schule  geschrieben. In Bielefeld machen sie sich gerade auf den Weg.  Sicher kein leichtes Unterfangen, denn es geht um nichts Gerin- geres als ein echtes Umdenken in Sachen Schule entwickeln. Agile Schulleitung


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0 Story 3:   Als Dozentin benötige ich einen Lehrplan für den  von mir durchzuführenden Unterricht, damit ich rechtzeitig  vor Ausbildungsgangstart konkrete Lernsituationen vorbereiten  kann. Story :   Als bildungsgangverantwortliche Abteilungsleitung  brauche ich eine den offiziellen Rahmenvorgaben entsprechende  Stundentafel, die ich der Schulaufsicht auf dem Dienstweg zur  Genehmigung vorlegen kann. Story 5:   Als Mitarbeitende aus der Verwaltung mit Aufgaben  im Bereich des Vertragswesens benötige ich den exakten Titel des  Bildungsgangs, damit ich die zur Vertragsproduktion relevanten  Dokumente im schuleigenen Informationsmanagementsystem  rechtzeitig vor Erstellung des ersten Ausbildungsvertrags vorbe- reiten/anpassen kann. Story :   Als Mitarbeiter im IT-Service benötige ich eine  konkrete Aufstellung des erforderlichen technischen Equipments,  damit dessen Beschaffung, Installation und Konfiguration recht- zeitig vor Ausbildungsstart abgeschlossen werden kann. Story 7:   Als Betriebsrat möchte ich über das neue Bildungs- gangkonzept umfassend informiert werden, damit ich prüfen  kann, ob mit der Einführung des neuen Bildungsgangs Ent- scheidungen getroffen werden, die der betrieblichen Mitbestim- mung unterliegen. Story :   Als Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Zulie- ferschulen möchte ich über Inhalte, Startzeitpunkt und Kosten  des neuen Bildungsgangs informiert sein, damit ich meine Schü- lerinnen und Schüler gezielt zu diesem Angebot beraten kann.   Um die Menge der User-Stories sinnvoll zu bändigen,  entschieden wir uns, die Anforderungen zu clustern und den  Clustern eigene Überschriften zu geben. Es entstanden die  sog. Epics, die zentralen Elemente der angestrebten Lösung:  epic 1 :Rahmenbedingungen klären (u.a. für Story 4) epic :  Marketing etablieren (u.a. für Story 2) epic 3:  Kollegium informieren (u.a. für Story , Story ) epic :  Inhalte erarbeiten (u.a. für Story , Story 8) epic 5:  Technik bereitstellen (u.a. für Story 1, Story 6) Mit den Epics und den Userstories wurde dann eine Story- Map gebaut.  Was heißt es aber nun konkret, die Rahmenlehrpläne auszu- werten oder eine Stundentafel zu entwickeln?  Welcher (Arbeits-)Aufwand steckt dahinter? Und was  muss bis wann gemacht sein? Es wurde Zeit, die Stories zu  priorisieren, ihren Aufwand mittels agiler Schätztechniken  zu ermitteln und in eine sinnvolle zeitliche Reihenfolge zu  bringen. Dazu haben wir spezifische Task, d.h. konkrete  Aufgaben zur Umsetzung einzelner User-Stories entwickelt  und diese dann mittels Planning-Poker und anderen agilen  Schätztechniken zu einem ersten Releaseplan choreogra- phiert.   Und dann begann die konkrete detailarbeit. Release 1, Sprint 1: Sprint Backlog füllen, weitere Tasks  entwickeln, Umsetzungsverantwortung übernehmen, Teillö- sungen und Prototypen bauen und die erzielten Ergebnisse  letztlich an der zuvor gemeinsam verabredeten Definition of  Done messen (das Review). Ziel erreicht? Spitze! Ziel ver- fehlt? Auch Spitze! Denn das ist ein Lernanlass (Retrospekti- ve und Backlog Grooming): Was wäre ein passenderes Ziel?  Welches zusätzliche Know-How brauchen wir noch? Wo  waren wir schon gut? Wovon sollten wir unbedingt mehr  machen? Was werden wir im nächsten Sprint besser machen?  Und dann ab in den nächsten Sprint. Und so entstand  – oder besser entsteht immer noch Stück um Stück ein  neuer Bildungsgang. Mit Genehmigung durch die Bezirks- regierung, Marketinginstrumenten, einem im Lerncoaching  geschulten Kollegen-Team, Selbstlernmaterialien,  Projektspezifikationen, einem Instrumentarium zur  Leistungsbeurteilung und einer angemessenen  Technikausstattung.  PS: Im Herbst 2019, also rund ein Jahr nachdem die  Produktvision das Licht der Welt erblickt hat, wird die erste  Ausbildungsgruppe starten. Das Entwicklerteam ist mittler- weile größer geworden, das Vorgehen ist nach wie vor noch  das Gleiche.  Agile Schulleitung


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Faust-Gymnasium Staufen. Es dürfte gut 10 Jahre her sein,  als unser Schulleiter beim Zusammenstehen am Kaffeeau- tomat meinte, dass wir ein Problem hätten. „Wenn auch  nur zwei, drei Schüler aus  und 8 sitzenbleiben, dann  müssen wir aus 10 kleinen, 8 große Klassen machen. Klassen- teiler.“ Eine Kollegin und ich hatten damals Lust, eine Idee  auszuprobieren. „Wenn wir alle Versetzungsgefährdeten zu  einer Gruppe zusammenbauen wie bei den Weightwatchers  und sie sich gegenseitig von ihren Erfolgen erzählen lassen,  dann steckt das vielleicht einfach an.“ war unsere blauäugige  Meinung. 3 monate später waren alle versetzt, ohne dass  wir auch nur ein lehrergespräch führen mussten. der reihe nach:  Wir hatten am Faust im außerunterricht- lichen Bereich jahrzehntelange äußerst gute Erfahrungen  damit gemacht, Schüler/innen viel mehr zuzutrauen und  zuzumuten, als das allgemein üblich war. Warum sollte  dieses Zutrauen, sich selbstständig aus der Gefahr des Sitzen- bleibens zu befreien, nicht auch wirksam sein. Wir sollten  recht behalten und mit diesem Konzept gleich jahrelang die  Nichtversetzungsquote an unserer Schule halbieren. Lassen Sie mich rückblickend erzählen, warum wir Erfolg  hatten. Warum unser Konzept agil war, ohne dass wir diesen  Begriff überhaupt kannten. - Wir hatten ein Ziel, aber noch keinen wirklichen Plan. Wir  haben ausprobiert und unser weiteres Vorgehen regelmäßig  angepasst. Zusammen mit unseren Schüler/innen, um die  es ging. Wir haben daran geglaubt, dass es funktionieren  könnte. Und unsere Schüler/innen haben das offensicht- lich auch. Da war jemand, der an ihren Erfolg glaubte, das  schien für die meisten neu zu sein. Wir hatten einige Ideen  mitgebracht, der Rest entwickelte sich aus dem Prozess. Das  erste Treffen dauerte zwei Schulstunden, alle schauten sich  unsicher um. Es war immerhin komplettes Neuland für alle.  Ein kollektives Outen, dass man versetzungsgefährdet ist -  mit gleichzeitiger Erkenntnis, dass man nicht alleine ist. Ich  weiß noch, wie ich damals erzählend mit einer Geschichte  anfing, die mein Lehrerleben geprägt hat:  Ich war junger Vertrauenslehrer. Zwei Siebtklässlerinnen kamen  „in Not“ ... ihre Mathelehrerin ... furchtbare Geschichten,  schlechte Noten... Lieblingsschüler ... sie hasst uns ..etc ... Ich  versprach, mit der Kollegin zu reden und bat die Mädchen, in  zwei Wochen wiederzukommen. Der Moment, als die beiden pünktlich nach 14 Tagen wie- der auftauchten, war peinlich für mich. Ich hatte es komplett  vergessen. „Und?“ fragte ich, um Zeit zu gewinnen. „Es ist  inzwischen alles super. Wir haben es sofort gemerkt, dass Sie  mit der Frau P. gesprochen haben ... Sie nimmt uns jetzt dran,  ist freundlich zu uns und wir haben auch schon beide eine gute  Note geschrieben.“ Darüber aufgeklärt, dass ich sie vergessen  hatte, habe ich die beiden erst beim Abiball und habe sie zu  einem Glas Sekt eingeladen. Mathe-Leistungskurs: 12 und 13  Punkte. Die Kollegin P. meinte übrigens damals auf meine  Nachfrage, dass bei den beiden Schüler/innen irgendein Wunder  passiert wäre. Sie hätten von einem Tag auf den anderen mitge- macht, wären plötzlich ganz freundlich und hätten richtig gute  Noten geschrieben. Ja mit dieser Geschichte bin ich damals  eingestiegen, um zu zeigen, was der eigene Kopf selbst hin- bekommt, wenn er an sich glaubt. Oder glaubt, das jemand  an ihn glaubt. Dass man die eigene Bildung auch einfach  selbst in die Hand nehmen kann. Der Versetzungs-Scrum              Heinz Bayer Ich selbst habe erst, als ich eher zufällig zum Forum agile  Verwaltung gestoßen bin, weil ich eine Veranstaltung als  Tagungschronist zeichnend begleitet habe, gemerkt, dass unserer  eigenen früheren Projekte auf Augenhöhe mit Schüler/innen am  Faust-Gymnasium agiles Denken voraussetzten. Haltungssache  waren. Und deshalb auch erfolgreich. Auch das agile  Herangehensweise der Kleinschrittigkeit und des professionellen  Ausprobierens war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Dass  man es auch agil nennen kann, war mir damals unbekannt.  Ich erzähle einmal eine kleine Geschichte von vielen.  Versetzungs-Scrum


2 Unsere Gesamtidee war schlicht: Jede Woche war ein DIN  A4 Plan auszufüllen, der freitags beim Sekretariat abgegeben  werden musste. Darauf war auch das „Strecktagebuch“,  das jede/r führen sollte. Bei Strecken ein Strich. Und dann  einmal in der Woche ein Treffen mit Gedankenaustausch.  Erfolgsgeschichten erzählen, die den anderen Mut machen.  Zu Beginn jedes Pausentreffens sollte jede/r ein Kreuz an  die Tafel machen, um zu signalisieren, ob die letzte Woche  besser oder schlechter war als die Woche davor. Die Kreuze  landeten schon von der ersten Sitzung an im positiven Be- reich. Wir beiden Lehrpersonen hatten damals viel zugehört  und gute Tipps von den Schüler/innen verstärkt. Eigent- lich haben wir eher entspannt einem Selbstläuferprozess  zugeschaut und gestaunt, dass sich die gesamte Entwicklung  erfolgreich angefühlt hatte. Die Schüler/innen hatten sich  häufig zu kleinen Peergroups mit demselben Ziel gefunden,  die auch außerhalb unserer Treffen ihre Wirkung zeigten.  Denn am Ende stand: Wir mussten unser Versprechen, dass  wir uns bei den Fachlehrern für sie einsetzen würden, falls  es doch nicht ganz reicht, nicht einmal einlösen, denn alle  wurden versetzt.  Wir waren Teil des Ganzen, das Gefühl hieß Augenhö- he und mit vielen habe ich später beim Abiball auf ein  erfolgreiches Abitur angestoßen.  Jahre Faust haben mir  gezeigt, dass man mit der richtigen Haltung Schüler/innen  gegenüber enorm viel lostreten kann, weil Jugendliche so  viel mehr können, als sie üblicherweise abliefern. Wenn  man dann mit etwas Glück und Erfahrung auch noch  Methoden erfindet, die an agile Methoden erinnern, dann  fühlt sich das im Nachhinein sehr komfortabel und gut an. Versetzungs-Scrum


Der Flügelverleih -             Tobias Illner Vom Flügelverleih oder einer oase in einer großen Schule Der Flügelverleih ist ziemlich genau zu dem Zeitpunkt ent- standen, als ich als Referendar ans Faust-Gymnasium nach  Staufen kam. Das ist jetzt zehn Jahre her.  Und von Beginn an war dieser Bereich für mich ein Ort,  wo ich mich wohlgefühlt habe. Das lag zum einen am Team  sympathischer Vollblutpädagogen, zum anderen an der  inhaltlichen Arbeit an unserem Projekt, dem Flügelverleih.  Neben ein paar weiteren Projekten im Ganztagesbereich wie  etwa der Sportlichen Mittagspause oder der „Matheakademie“  ist und war die Hausaufgabenbetreuung der Klassenstufe   Kern des Flügelverleihs.  Dafür haben wir eine ganze Menge Experten eingestellt: Im  aktuellen Schuljahr arbeiten knapp 0 Schülerinnen und  Schüler ab Klasse 9 als Lerncoaches bei uns im Team. Und  eine übergroße Mehrheit von ihnen hat vor Jahren selbst als  Kind vom  Flügelverleih profitiert. Nicht wenige haben sich  als Lerncoach beworben, weil sie etwas von dem zurückgeben  wollen, was sie damals selbst als sehr positiv erfahren haben.  Und das war in erster Linie die Beziehung zu älteren Schülern.  Gerade wenn man neu an eine Schule kommt, braucht man  Anknüpfungspunkte, um richtig anzukommen.  Neben schulischem Interesse, spannenden neuen Fächern  und Räumen sind in dieser Phase Begegnungen mit anderen  Menschen besonders wichtig. Und neben den neuen  Mitschülern und neuen Lehrern haben hier die Kontakte zu  älteren Schülern eine besondere Qualität. Diese menschliche  Dimension der innerschulischen Hausaufgabenbetreuung  strahlt aus und hat einen spürbar positiven Effekt auf das  gesamte Schulklima. Den Kindern beim Lernen und darüber hinaus Flügel zu  verleihen, das ist das zentrale Anliegen des Flügelverleihs.  Spannend an dieser Einrichtung:  das Projekt im Projekt.   Denn genauso wie die Fünftklässler betreut werden müssen,  brauchen die Lerncoaches eine Betreuung. Diese Betreuung  erfolgt momentan durch ein fünfköpfiges Lehrerteam und  die Schulsozialarbeiterin, hat aber einen deutlich anderen  Charakter als das übliche Lehrer-Schüler-Verhältnis. Schließ- lich arbeiten wir ja alle an einem gemeinsamen Projekt,  einem guten Betreuungspaket für unsere Fünftklässler. An diesem Punkt zeigt sich für mich am besten der agile  Ansatz des Flügelverleihs: Die Lerncoaches begleiten, sie in  ihrem Tun ermutigen, ihnen Raum geben, sich auszuprobie- ren und Verantwortung zu übernehmen, eigenständig Teile  des pädagogischen Begleitprogramms vorzubereiten und  durchzuführen. Sie sind eingeladen mitzugestalten und mit- zubestimmen. Die Früchte dieses Ansatzes werden besonders  bei unseren Lerncoachseminaren immer wieder sichtbar, die  zu verschiedenen Zeitpunkten im Schuljahr stattfinden.  Das Niveau der pädagogischen Gespräche unter den  Lerncoaches über ihre Arbeit mit den Fünftklässlern lässt  bisweilen vergessen, dass sie selbst noch Schüler sind. Ich war damals dabei, als es mit dem Flügel begann und  natürlich freue ich mich wie Bolle, dass ein Projekt, das wir als  kleines aktive Team von Lehrer/innen zusammen mit Schüler/ innen entwickelt  haben, noch immer in voller Blüte steht.  Die Idee war schlicht: Nehmen wir die zukünftigen Lehrer/in- nen, Sozialarbeiter/innen, Personalchef/innen etc ins Boot und  experimentieren in einer eigenen kleinen Nachmittagsschule.  Das Ziel war klar, der Weg nicht.  Agiles Herangehen war angesagt, würde ich heute sagen. Der Flügelverleih das niveau der pädagogischen gespräche unter den lerncoaches über ihre Arbeit mit den Fünftklässlern lässt bisweilen vergessen, dass sie selbst noch Schüler sind.


2 Der Flügelverleih


Hinhören und der nonverbale Raum      Elisabeth Theisohn Meine eigenen Lektionen in Sachen Hinhören habe ich vor vie- len Jahren bekommen, als wir eine CD von unseren Schulbands  produzieren wollten, aber keine Ahnung hatten, wie man das  technisch umsetzen könnte. Aber wir hatten aktive Schüler, die  hatten Ahnung. Und bekamen immer mehr Ahnung, indem  wir ihnen freie Hand ließen und viel zuhörten. Ein Tonstudio  haben wir genau so aufgebaut. Schülern zugehört und gestaunt.  Bewusstes Hinhören und das Staunen über viele Projekte, die  so entstehen konnten, obwohl wir betreuenden Lehrer gar keine  Musikprofis waren, das hat unsere Haltung geprägt.  das bewusste Hinhören übertrug sich auf alle - und wenn es als Haltung gegenüber mitmenschen und Fremdem verinnerlicht wird, dann haben wir so viel gewonnen! Bewusstes Hinhören Auch wenn ich überwiegend Musik-, aber auch Deutsch-,  Methoden-, Nachmittagsbetreuungs- oder Klassenlehrerin  und auch Chor-, Orchester- und Bigbandleiterin in meiner  aktiven Schulzeit war - beschreiben würde ich mich als agile  Pädagogin.  Das ist der Kern, der gleich, was ich unterrichtete und heute  unterrichte, konstant geblieben ist. Dass ich aber von Haus  aus Musikerin bin, hat diesen Kern entscheidend beeinflusst.  Besondere Momente im Unterricht sind für mich die, an de- nen die Sprache in den Hintergrund tritt und die Aufmerk- samkeit auf das Nichtzusagende gerichtet wird, das nur dann  entstehen kann, wenn erstens Raum für die Gruppe bereitet  ist und er zweitens auch eingenommen wird. In Musizier- aktionen kann dies oft geschehen und initiiert werden.  Hier zog ich mich sooft es ging aus den Prozessen heraus  und überließ den Lernenden die Verantwortung für den  weiteren Prozess. So konnte ich durch Beobachtung und  Hinhören Lernende und Dinge neu kennenlernen.  Das bewusste Hinhören übertrug sich auf alle - und wenn es  als Haltung gegenüber Mitmenschen und Fremdem  verinnerlicht wird, was haben wir dann gewonnen?  Je länger ich unterrichtete, desto bewusster wurde mir, dass  mein Hinhören in nonverbalen Musizieraktionen auf die  meisten Unterrichtssituationen übertragbar und entschei- dend für die Qualität des Unterrichtens war. Ich war darin  geschult, Reibungen wahrnzunehmen, Pausen ihren Raum  zu lassen, unterschiedliche Stimmen als gleichberechtigt im  Prozess zu erleben und auch die leisen Töne unter vielen  lauten zu beachten.  Je mehr mir dies gelang, desto selbstverständlich wurde  es auch als Unterrichtsprinzip für meine Klassen. Erst aus  dieser hinhörenden Haltung, konnte für mich meine agile  Haltung wachsen, die für mich aus zweierlei besteht: dem  Wahrnehmen, was ist und dem Ermöglichen, was sein  könnte.


2 Bewusstes Hinhören


Mein Weg in die Schule und meine Vision von  dem was Schule sein soll.            André Pittlkau  Nach meinem Staatsexamen im Jahr 201 im Fach Musik  war für mich eines klar: ich werde nicht direkt den Weg in  die Schule gehen. Zu dieser Zeit schien mir das Schulsystem  wie ein starrer Mikrokosmos mit wenig eigenen Gestaltungs- möglichkeiten.  Die Vorstellung, für den Rest meines Lebens in diesem  Mikrokosmos das ewig gleiche Expertenwissen vor wech- selnden Lerngruppen runter zu dozieren, schien mir wenig  attraktiv. Was für mich jedoch immer klar war: im Herzen  bin ich Lehrer und seit dem ich mit 16 Jahren angefangen  habe Schlagzeug zu unterrichten, liebe ich die pädagogische  Arbeit. Die Entwicklung von Schülerinnen und Schülern  zu verfolgen, ihnen Werkzeuge zur Potentialentfaltung und  Selbstwirksamkeit mit an die Hand zu geben, das sind groß- artige Dinge die kein Managerposten in einem Fortune 00  Unternehmen ersetzen könnte. Was also tun, wenn man das  Unterrichten liebt, aber nicht direkt in die Schule möchte?  Als Musiker gibt es Gott sei Dank unendliche Alternativen.  Also lebte ich mich erstmal  Jahre als freiberuflicher  Musiker und Musikschullehrer aus. In dieser Zeit wuchs  mein Interesse an außermusikalischen Themen, ich ver- schlang ein Sachbuch nach dem anderen und entschied mich  für ein nebenberufliches Studium im Bereich  Unternehmensmanagement.  Während des Studiums fiel mir das Buch von Jeff Suther- land Scrum: The Art of doing Twice the Work in Half the  Time  in die Hände. In dem letzten Kapitel dieses sehr zu  empfehlenden Buchs spricht Jeff Sutherland auch von Willy  Wijnands  und seiner Scrum-Adaption für die Schule,  namentlich eduScrum. Schon beim Lesen war ich hin und  weg von der Idee. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Meine  musikalische Ausbildung, zusammen mit dem Wissen aus  dem Unternehmensmanagement-Studium und den  Ansätzen von eduScrum formierten sich zu einer sehr  beflügelnden Vision von dem, was Schule auch sein kann.  Nämlich doch viel viel mehr als der oben beschriebene  gestaltungsarme Mikrokosmos mit den immer gleichen In- halten. Schule kann sehr wohl ein Ort kreativer Erweckung  sein. Ein Ort an dem sich lebensnahe Schlüsselqualifikati- onen für die Zukunft spielerisch erlernen lassen. Alles was es  dazu braucht ist das richtige Mindset des Lehrers (und später  auch der Lernenden) und das richtige Werkzeug. Und mit  eduScrum, so schien es mir, habe ich endlich das richtige  Werkzeug gefunden.  Alle sprechen von Digitalisierung und zeichnen Drohszena- rien für die Zukunft der Arbeitswelt. Massenarbeitslosigkeit,  das große Jobsterben, Verwirrung, Zähne klappern, Haare  sträuben. Und die Antwort darauf soll nun sein, jedem Kind  ein Tablet in die Hand zu drücken und sich ein Smartboard  ins Klassenzimmer zu stellen?  Ich kenne keine großen Probleme dieser Zeit, die dadurch  gelöst werden könnten. Was dann? Meiner festen Über- zeugung nach, müssen wir den Schülerinnen und Schülern  die Fähigkeit vermitteln kreativ Probleme lösen zu können.  Wir müssen sie zu exzellenten Teamworkern ausbilden. Wir  brauchen eine Kultur in der Fehler als völlig notwendiger  Bestandteil des Erkenntnisgewinns angesehen und nicht  zwangsläufig rot markiert werden. Wir brauchen Schüler- innen und Schülern die sich trauen, eigenständig Ideen zu  formulieren und sich anschließend auch trauen, diese vor  einem Publikum zu präsentieren.  Als Musiker konnte ich es nie nachvollziehen, wie man sich  nicht gerne auf eine Bühne stellen möchte um seine erarbei- teten Leistungen zu präsentieren. Offenbar ist das nicht für  jeden selbstverständlich und daran muss gearbeitet werden.  Was wir brauchen ist ein Umfeld wo sich Schülerinnen und  Schüler sicher sein können, dass ihre Beiträge Wertschät- zung und konstruktives Feedback erhalten.  Agiles Lernen  oder eduScrum ist nicht die magische Pille und hat nicht  alle Antworten auf all diese beschriebenen Forderungen und  Visionen. Aber: ich kenne kein anderes Werkzeug was mehr  Potential hat die perfekte Grundlage dafür zu sein. Was wir  als Lehrer daraus machen ist das Entscheidende. Für mich  war jedenfalls klar:  ich muss in die Schule und muss diesem Ansatz agilen lernens einen Versuch geben!  Vision von Schule Für so manchen Menschen, der gerne unterrichten würde,  aber dem das heutige Scbulsystem viel zu starr erscheint, sei  gesagt: Es ist anstrengender, klar, wenn das System, in dem  man agil arbeiten will, nichtagil ist. Als wenn schon das  System agil wäre. Aber sorry: Es gibt kaum einen Beruf, in  dem man so viele Freiheiten innerhalb seines eigenen Handelns  besitzt. Klar ist der Rahmen gesteckt. Aber fragen Sie mal bei  Willy Wijnands nach, wie es sich anfühlt, wenn seine  Schüler/innen 10 Wochen früher mit dem Jahresstoff fertig  sind, bei gleichem Leistungsniveau wie die Parallelklassen,  und dann selbstständig in eigenen Projekten forschen. Chemie  am Gymnasium. Augenhöhe und viel Energie für die Lehr- person, aber ein Gesundmacher der Extraklasse. Agil lehren  - und am Ende ohne Schulfrust in die Pension. Mein Ding.


29 Vision von Schule


30 1. Ziel des Spiels Unser Anliegen ist es, neuen Teams oder „digitalen Lotsen“,  die digitale Dienstleistungen für Verwaltungskunden entwickeln  sollen, neue agile Methoden dafür nahezubringen.  Das können Methoden  wie z. B. Scrum oder Design Thin- king sein. Viele Teammitglieder tun sich schwer, diese neuen  Arbeitsweise anzunehmen. Das Problem ist nicht, dass sie sie  nicht verstehen. Die Mitarbeiter haben ein Problem mit un- klaren Anforderungen der künftigen Anwender. Sie sind mit  den Auftragsbeschreibungen der Anwendervertreter unzu- frieden. „Wir interviewen Bürger als Vertreter der künftigen  Bediener unseres neuen Service-Portals, aber die wissen gar  nicht, was sie genau wollen.“ Nun ist das aber in derartigen Projekten fast schon normal.  Weder kann man die Anforderungen noch das Design oder  Lösungskonzept vor Beginn des Projekts genau festlegen.  In solchen Fällen bietet sich eine Arbeitsweise mit kurzen  Feedback-Zyklen an, weil man so schneller erkennt, ob man  auf dem falschen Weg ist. Für diese Situation haben wir ein Spiel gesucht. Wir wollten  den Spielern das Gefühl vermitteln, dass es manchmal besser  ist, etwas auszuprobieren, als auf den perfekten Plan zu war- ten. Wir brauchten also eine Übung, bei der das Ziel nicht  zu 100 Prozent eindeutig ist. Zudem musste das Spiel aus  mehreren Runden bestehen, damit man die Verbesserungen  auch merkt. Um Verbesserungen zu erkennen, braucht man  irgendeinen Bewertungsmaßstab. Eine gute Anlaufstation für Spiele im agilen Bereich ist die  Webseite www.tastycupcakes.org. Dort haben wir das Spiel  „Lean Startup Snowflakes“ gefunden, das André Dhondt im  Mai 2012 dort veröffentlicht hat.   Spielregeln.1 Teams und materialBeim Schneeflockenspiel bilden die Spieler Entwicklungs- teams, um Schneeflocken zu produzieren und zu verkaufen.  Der Trainer spielt den „Anwendervertreter“. Er kauft den  Teams schöne Schneeflocken ab. Für einfache Schneeflocken  bezahlt er einen Euro, für sehr schöne bis zu fünf Euro. Jedes Team bekommt:     eine Schere,      Blatt Papier     ein Startguthaben von fünf Euro. Wenn das Team neues Material braucht, muss es das von  dem verdienten Geld kaufen. . einrichtung der FlipchartsAuf ein Flipchart wird die Preisliste geschrieben: „2 Blatt Papier: 1 €“ „1 Schere  €“ Die Spieler haben in 4- Runden Zeit, Schneeflocken zu  produzieren und zu verkaufen. Eine Produktionsrunde dauert  Minuten. Die Teams  produzieren Schneeflocken. Am Anfang sind die Anforde- rungen des „Anwendervertreters“ schwammig: „Produziert  schöne Schneeflocken.“ Aber was  heißt „schön“? Nach jeder Produktionsrunde kommt eine Verkaufsrunde.  Die Teams bzw. ihre „Verkäufer“ (Rollenbeschreibung siehe  unten) verhandeln mit dem Anwendervertreter, welche der  Schneeflocken er zu welchem Preis kauft. Schneeflocken - oder agil zum Anfassen    Wolf Steinbrecher  Schneeflocken Wolf Steinbrecher ist agiler Prozessbegleiter für Behörden und  Verwaltungen und stellt in diesem Kapitel eine Möglichkeit vor,  wie man agiles Handeln durch ein Spiel sichtbar machen kann.  Ein Spiel vielleicht für einen Pädagogischen Tag, um Lehrer/in- nen zu verdeutlichen, wie effektiv es ist, seine Kunden in den  Entwicklungsprozess mit einzubeziehen. Seine Schüler/innen  mit in die Lernprozessplanung und -umsetzung einzubeziehen,  das kennzeichnet agiles Lehren und Lernen. Fehlt nur noch ein  kleines Team von Kolleg/innen, mit denen man sich über diese  Art von Unterricht austauschen kann, dann ist die Lehrer- zufriedenheit in trockenen Tüchern. Und die Effektivität des  eigenen Unterrichts optimiert. 


1 Die ersten Schneeflocken sind meist hässlich. Sie haben  keine Schneeflockenform. Sie sind eckig und nicht rund. Sie  sind nicht symmetrisch.  Der Anwendervertreter zahlt nur 1 € oder wenig mehr pro  Schneeflocke. Er kann auch Produkte ganz verwerfen. Nach jeder Runde notiert der Anwendervertreter, wie viel  Geld jedes Team hat. Dafür wird für Zählboard auf ein Flip- chart gezeichnet, das bei zwei Teams wie oben aussieht: Nach jeder Runde erhalten die Teams 2 Minuten Zeit, in  denen sie Verbesserungen in der Form der Schneeflocken  oder in den Produktionsmethoden („Prozessdesign“)  diskutieren. .3 Strategie des Spielleiters Die Schwierigkeit ist, herauszufinden, wie schöne Schnee- flocken denn nun aussehen und wie man gleichzeitig die  Wirtschaftlichkeit wahrt (also nicht extrem viel Arbeitsauf- wand in eine kleine Verbesserung investiert). Dazu gibt der  Anwendervertreter zu jeder angebotenen Schneeflocke Feed- back: „Gefällt mir nicht/gefällt mir. Ist nicht schön rund. Ist  symmetrisch usw.“ Herausforderung für den Spielleiter: Er sollte sich vor Spiel- beginn eine Basisdefinition von „schönen Schneeflocken“  zurechtlegen. Das ganz aus der Spielsituation heraus spontan  zu entwickeln, ist für viele Spielleiter eine Herausforderung.  Eine mögliche Definition wäre:     Schöne Schneeflocken sind mindestens sechseckig.     Sie sind im Inneren möglichst fein ausgeschnitten.     Es gibt eine optimale Größe (1/4 DIN A 4), darunter und          darüber gibt’s Abzüge.     Super-Schneeflocken sind möglichst schön bunt. Daneben sollte der Spielleiter aber offen sein für Vorschläge  der Teams, so dass auch eine spontane Produktentwicklung  eine Chance bekommt. Eine Vorstellung, was „Schönheit“  Schneeflocken


3 von Schneeflocken bedeutet, soll sich im Dialog von  Kunden und Entwicklungsteams herausbilden.  Dabei können sie sich weit vom Naturvorbild entfernen. . entwicklung der rollen im Spielverlauf Auf der Seite der Spielleitung gibt es zwei Rollen: - Anwendervertreter, der Schneeflocken ankauft und die     Erlöse auf dem Zählboard vermerkt. - Lieferant, der Scheren und Papier verkauft und die Kosten     auf dem Zählboard vermerkt. Diese Rollen ändern sich nicht während des gesamten Spiels.  Wenn es nur einen Trainer gibt, muss er sowieso beide  Rollen ausfüllen. Auf Seiten der Entwicklungsteams wird ein „Verkäufer“ fest- gelegt, der mit dem Anwendervertreter in der Verkaufrunde  die Verhandlungen über Verkaufspreise führt und immer  genauer in Erfahrung bringen will, was eigentlich für den  Anwender „schöne Schneeflocken“ bedeuten. Die restlichen  Teilnehmer bilden des Entwicklerteam und hören nur zu.  (Diese Festlegung soll einfach die Spieldauer überschaubar  halten; wenn alle durcheinander reden, werden die Verkaufs- verhandlungen extrem lang). In der zweiten Runde wird ein Scrum-Master in jedem Team  bestimmt. Der beobachtet die Arbeitsweisen des Teams und  macht in den Verbesserungsdiskussionen Vorschläge. Ab der vierten Runde geht der „Anwendervertreter“ herum  und flüstert den Entwicklern Informationen ins Ohr: „Der  ist aber nicht so fein ausgeschnitten!“ – „Wie wär’s mit ein  wenig Farbe?“ – „Hier die Ecken müssen noch ab.“ – Zu  testen ist, ob die Teammitglieder das an die anderen weiter- geben. .5 Übliche entwicklung der Produktstrategien Nach der vierten Runde fangen die Produktdesigns an, sich  zu konsolidieren. Die Spieler verstehen, worauf sie achten  müssen, was den Anwendern wichtig ist. Sie priorisieren  (testen nur noch 1-2 bestimmte Designs) und gehen dann in  die Massenproduktion (fangen an, Prozesse zu  definieren). Damit verdienen sie dann ihr Geld. Um die Dynamik zu erhöhen, wird für alle sichtbar ein  Timer angezeigt, der auf die verbleibende Zeit hinweist.  Zudem wird kurz vor dem Ende Musik abgespielt. 3 Spielauswertung In der Auswertung hält der Spielleiter dann eine Schneeflo- cke aus der ersten und eine aus der letzten Runde hoch und  fragt die Spieler, welche Flocke sie schöner finden. Dann  sieht er sich mit den Spielern zusammen die Geldbeträge in  jeder Runde an. Meist spielen wir  Runden à  Minuten.  Der Spielleiter fragt nun, wie viel Geld die Spieler verdient  hätten, wenn sie statt  x  Minuten einmal 1 Minuten  gespielt hätten. Nun erkennen die Spieler, dass es in unklaren Situationen  gut funktioniert, etwas auszuprobieren und sich Feedback zu  holen. Die Spieler bekommen aber auch ein Gefühl für Ko-Design,  für die aktive Partizipation der Verwaltungskunden. Vor dem  Spiel hatten sie den Eindruck, sie müssten „für“ die Bürger  Dienstleistungen entwickeln. Jetzt haben sie die Erfahrung  gemacht, dass es produktiver ist und gleichzeitig mehr Spaß  macht, wenn man mit den künftigen Kunden zusammenar- beitet, statt nur „für“ sie. Schneeflocken


Schneeflocken


3 Agiler Werkstattbericht         Laura Kristina Röhrig 9 Uhr morgens in der Werkstatt , Zeit für das Daily Stand- Up. Jeweils vier bis fünf junge Menschen versammeln  sich vor ihren Teamboards. Was steht heute an? Die Story  „Erstellung der elektronischen Teile“ ist dran, und das Team  nimmt sich für heute 6 To-Dos vor. Hat jemand noch eine  Frage? Ein Problem? Sind wir arbeitsbereit? Dann los. Um  10 nach 9 herrscht geschäftiges Treiben an den Werkbänken.   Eine agile Haltung in der Ausbildung kann sich in vielen  Facetten zeigen. Da wären einmal agile Lernprojekte, wie  solche die sich am Rahmenwerk eduScrum orientieren. Das  Erlernen praktischer Fertigkeiten und deren Verknüpfung  mit theoretischem Wissen haben einen hohen Stellenwert in  der technisch-gewerblichen  Ausbildung und diese  Kombination kann in solchen Projekten realisiert wer- den. Die benötigten Informationen sollen nicht möglichst  „mundgerecht“ und zugeschnitten auf die Projektdetails  dargereicht werden, sondern eigenständig durch die Aus- zubildenen aus verschiedenen Quellen zusammengetragen  werden.  Dazu kommt eine  Aufgabenstellung, die den Teams er- möglicht, in den Details eigene Entscheidungen zu treffen  und eine weitgehend selbstgesteuerte Projektarbeit. Das  erscheint zunächst sehr herausfordernd für die Beteiligten  und auch zeitaufwendiger, aber andererseits angemessen für  eine Arbeitswelt, in der eigenes Wissensmanagement und  lebenslanges Lernen zu den erfolgskritischsten Fähigkeiten  überhaupt geworden sind. Die Begleitung des Lernprozesses  durch den Ausbilder wird in diesem Setting enorm wichtig  und herausfordernd.    Eine agile Haltung in der Ausbildung kann sich auch darin  zeigen, sich als Ausbilderteam explizit mit der Frage zu  beschäftigen, wie können wir unsere Ausbildung vom Aus- zubildenden her denken?  Wie ticken unsere Auszubildenden  eigentlich? Was bringen unsere Auszubildenden eigentlich  alles mit, ohne dass wir davon wissen?   Die wissen über viele neue Themen gerade im Bereich der  Digitalisierung, IT und IoT mehr als wir zunächst anneh- men würden. Da wäre zum Beispiel der Azubi, der in seiner  Freizeit programmiert, und diese Fähigkeiten wahnsinnig  gerne in einem Lernprojekt im Betrieb einbringt und seinen  Mit-Azubis sowie Ausbildern zeigt wie es geht  (Stichwort lernende als lehrende).  Eine agile Haltung in der Ausbildung möchte diese Initiative  und das Einnehmen verschiedener Rollen hervorbringen  - und auch die Selbsterkenntnis, gefördert duch regelmässige  Retrospektiven: Was sind eigentlich meine Stärken, wo  können andere von mir profitieren? Dies und die Übernah- me von Verantwortung für Lernprojekte fördert die  Motivation. Dazu kann auch beitragen, die Auszubildenden  einmal die Themen fuer die Projekte vorschlagen zu lassen -  warum eigentlich nicht? Werkstattbericht Wer bei agil lernen und lehren immer nur an  Gymnasium und Hochschule denkt, der liegt schief.  Laura Kristina Röhrig hat agiles Lernen mit ihren Azubis erlebt  und schwört darauf.  Wer es schafft, die Kompetenzen der Auszubildenden mit in die  Ausbildung einzubinden, der tut sich selbst und seinen  Lehrlingen etwas richtig Gutes.


Werkstattbericht


3 Man nehme 49 Menschen aus 2 Nationen, buche sie alle  auf ein Kreuzfahrtschiff und mache daraus eine Konferenz  über ortsunabhängiges Arbeiten. Klingt total verrückt, gibt  es aber wirklich. die nomadcruise . Johannes Völkner, einer der ersten digitalen Nomaden, der  die klischeehaften Fotos vom Arbeiten am Strand mit dem  Laptop auf Facebook postete, hat seit 201 eine Bewegung  geschaffen, die gemeinsames Lernen, Netzwerken und einen  einzigartigen Lebensstil vereint. Er postete 201 in seine  Facebookgruppe Webworktravel ein Angebot, das er  entdeckt hatte: einen All-Inclusiv-Rückführungsdeal einer  Kreuzfahrt über den Atlantik für wenig Geld. Ca. 100  Menschen aus aller Welt, die bereits ortsunabhängig an ihren  Projekten arbeiteten und nach Gleichgesinnten suchten,  sprangen mit auf. ganz unkonventionell waren alle in einem Boot und tauschten ihre Fähigkeiten und Wissen, bei einem drink am Pool. Über drei Jahre später und 6 Nomadcruises weiter ist die  Nomadcruise der Inbegriff von Inspiration, Motivation,  Netzwerken, Weiterbildung und einem einzigartigen Lebens- stil geworden. Egal, ob erfolgreicher Online-Unternehmer  oder blutiger Anfänger in der digitalen ortsunabhängigen  Arbeitswelt, hier lernt jeder von jedem, ob über Facebook- marketing, Website-Design, Immobilien, Akroyoga oder  Jonglieren. Sharing is caring heisst die Devise. Man begegnet  sich auf Augenhöhe, bringt sein Wissen in Vorträgen, Work- shops oder einer Talentshow in die Community ein. Der  Zeitplan ist straff: Von 10-1 Uhr gibt es Motivationstalks  zu den Themen, Onlinebusiness, Lebenstil, Steuern, Woh- nen und Leben in der Welt, Youtube, Bitcoin, Storytelling,  Fotografie. Am Nachmittag kann man das neuerworbene  Wissen in kleineren Gruppen in Workshops weiter vertiefen,  sich in Arbeitsgruppen zusammenschließen oder sich am  Pool in der Sonne treffen.  ein Supermarkt der Weiterbildungsmöglichkeiten. Da alle auf einem Boot sind und es kaum (oder nur sehr  teures Internet gibt), ruht die Arbeit und neue Geschäfts- ideen entstehen, das Branding und die Vision des eigenen  Projekts wird geschärft, Filme gedreht oder verschiedene  Coachingmethoden ausprobiert. Ach ja und dann ist da noch der sozial angenehme Teil. Um  19.0 werden beim -Gänge-Dinner tiefgründige Gespräche  geführt oder sich noch mal themenbezogen an einem Tisch  vereint. Tagesausflüge in Alicante, auf Teneriffa und den  Kapverden und viele sportliche Aktivitäten machen die  Nomadcruise zu einem ganzheitlichen Erlebnis, wie ich mir  Bildung vorstelle. Agiles Lernen mit Abenteuer-Charakter.  Für mich ist diese Reise jedes Mal pure Inspiration!  Nur zwei Beispiele am Schluss: Ich lernte eine Deutsche  (28 J.) kennen, die mit humorvollen Deutschkursen auf  Youtube ihren Lebensunterhalt verdient ähnlich wie ein  begnadeter deutscher Gitarrist, der mit seiner Mitgliederseite  und dem Youtube-Kanal über 1 Million Hobbygitarristen  auf eine neues Level hebt. Auf www.inspirationcamp.org habe ich ein unter dem  Frequent Traveler ein Paket mit mehreren Interviews der  erfolgreichen jungen digitalen Nomaden zusammengestellt  und auch ich habe mich inspirieren und motivieren lassen  und mit einem Filmemacher meinen ersten Jonglier-Online- Kurs auf Udeemy produziert. Reich an Erfahrungen und  voller neuer Ideen starte ich in ein spannendes 2019! Global creativ exchange auf See!           Julia Schmitz Kreuzfahrt Was? Kreuzfahrtschiff und agiles Lernen und Lehren? „Ein  Supermarkt der Weiterbildungsmöglichkeiten.“ beschreibt es  Julia Schmitz in ihrem Beitrag. Lebenslanges Lernen, ist es  nicht das, was wir immer und immer wieder hören?  Könnte  man die Haltung dem Lernen gegenüber - wie auf der Nomad- cruise - ein wenig in einer Schule wirken lassen, dann würde  sich schon allein durch diese Haltungsänderung in den Köpfen  - von Lehrenden und Lernenden - eine effektivere Nutzung der  Institution Schule ergeben. Ohne dass auch nur irgendjemand  seinen Unterrichtsstil umgestellt hätte. Wobei sich natürlich  recht schnell so mancher Unterrichtsstil umstellen würde, weil  es allen Beteiligten damit besser ginge. Leider gibt es keine so  einfach Möglichkeit, Haltungsänderungen in Köpfe fließen zu  lassen. Deshalb ja auch unsere Magazinreihe - vielleicht macht  es Sie ja neugierig auf ein besseres Lebensgefühl als Lehrperson.


Kreuzfahrt


3 Ich sitze im Garten, die Sonne scheint, der Espresso duftet.  Das Semester ist vorüber, die Klausurphase ebenfalls. Ich  habe die Klausuren sogar schon bewertet, viel früher als  sonst bei mir üblich. Ich sinniere über das vergangene  Semester. Was war gut gelaufen? Was könnte ich verbessern? Was war sonst irgendwie wert zu bemerken? Meine Projektstudien sind ganz gut gelaufen. Dort teile ich  die Teilnehmer in Gruppen zu maximal  Personen ein. Jede  Gruppe erhält ein (Programmier-)Thema.  Das wird, eher agil, in zweiwöchigen Iterationen bearbeitet.  Was für ein Fortschritt gegenüber den früheren, plan-getriebenen Projekten! ergebnisse statt ausgefeilte Pläne! Ein wenig Sorgen machen mir die Klausurergebnisse,  besonders in den unteren Semestern. In den interaktiven  Vorlesungen besprechen wir vieles, alle nicken zustimmend.  Aber stelle ich eine passende Klausuraufgabe, eine Transfer- aufgabe, wird diese meistens nicht so gut gelöst. Woran liegt das? Wie kann ich, wie können die Studenten erkennen, dass  ein Thema doch nicht verstanden wurde? Oh, ein Schmetterling! Was wäre, wenn man Vorlesungen so ähnlich wie  Projektstudien organisieren würde? Gleich mal twittern. Toll, ein Kollege antwortet. Wir verabreden uns. Ich bringe  meine Ideen mit, er stellt kritische Fragen. Wir verbessern  die Idee. Die Teilnehmer sollen Themen wie in Projektstudien in  kleinen Gruppen selbst erarbeiten. Die Themen geben wir  Dozenten vor, bzw. hatten diese bisher in unseren interak- tiven Vorlesungen angesprochen. Alle zwei Wochen gibt es inhaltliches Feedback. Das ist dann siebenmal soviel  Feedback, wie es eine Klausur ermöglicht. Ich nutze eine Internet-basierte Plattform zum Sammeln der Arbeitsergebnisse. Dadurch müssen sich die Teilnehmer  auch nicht immer treffen. Die Teilnehmer machen auch die  Erfahrung, dass ein Treffen im realen Leben viel bewirken  kann. Ist das eine Form von Flipped Classroom? Nein, dort wird  das Lerntempo vom Dozenten vorgegeben. Beim Agilen  Studieren entscheidet jede Gruppe selbst über die Arbeitsge- schwindigkeit. Ich gebe Rückmeldung über den Arbeitsfort- schritt, indem ich ein Burn-up-Chart erstelle. Die maximale Anzahl an Themen ist ja bekannt. So kann jede Gruppe  selbst entscheiden, wie viel sie wann lernen möchte. Das war vor über  Jahren. Seitdem ist viel passiert.  Es gibt ein kleines Büchlein für Dozenten. Die technische  Plattform wurde angepasst. Das agile Vorgehen wurde agil  den Bedürfnissen angepasst. Statt Scrum eher Kanban.  Gerne auch mal im Wochenrhythmus.  mal sind die Klausurergebnisse nicht so gut. Aber keiner wundert sich. mal sind die Klausurergebnisse viel besser. Aber keiner wundert sich. durch das sieben- oder mehrmalige Feedback kennt jeder Teilnehmer den eigenen Wissensstand ganz gut. Es gibt eine positive Korrelation zwischen den erfolgreich  bearbeiteten Themen und dem Prüfungsergebnis. Für viele  ist das Ansporn genug. Aber viel wichtiger: alle Teilnehmer profitieren vom Agilen  Studieren auch in den späteren Semestern, bei anderen  Kollegen. Selbst wenn diese, aus Gründen, eine klassische  Vorlesung halten. Jeder hat erkannt, dass man selbst für den eigenen lernerfolg verantwortlich ist. Agiles Studieren                     Detlef Stern Agiles Studieren Schauen wir doch zum Schluss dieses Magazins noch in die  Welt der Hochschulen. Ich denke, dass in der Zwischenzeit klar  geworden ist, dass wir vom Forum agil lernen und lehren und  zwar im Hintergrund mmer irgendwie intuitiv das agile Mani- fest laufen haben, aber nicht unbedingt ein gestrenges Rahmen- werk, das es einzuhalten gilt, weil nur dann agil es Lernen und  Lehren erfolgreich ist. Wenn ein Professor von der Hochschule  Heilbronn über agiles Studieren schreibt, dann merkt man:  Agil tut gut. Lehrenden und Lernenden.


9 Agiles Studieren


0 Als Dozent für Friedens- und Konfliktforschung an der  University of Queenland in Australien ist mir das Begegnen  mit meinen Studenten auf Augenhöhe nicht nur wichtig,  ich erachte es vielmehr als elementar. Das klingt zunächst  einmal verrückt.  Als ich 199 als kleiner Student an der Uni in Bonn anfing  zu studieren, da wurden die Profs als Halbgötter betrachtet,  die unnahbar schienen. Und uns wurde unmissverständlich  gesagt, dass wir erst ab dem Hauptstudium in die Sprech- stunde eines Profs gehen durften. Nach dem Motto: lernt  erst mal was, dann dürft ihr den Prof auch mal was fragen.  Und auch wenn viele Jahre seitdem ins Land gezogen sind,  so ganz entfernt von der Halbgott-Erfahrung sind die deut- schen Hochschulen bis heute nicht (von anderen Ländern,  wie beispielsweise Frankreich, ganz zu schweigen). Dank meines Studienwechsels nach Grossbritannien und  nach abgeschlossener Doktorarbeit von dort nach Austra- lien an die Uni, durfte ich Erfahrungen mit Hochschulen  machen, in denen die Hierarchien erheblich flacher sind als  in Deutschland. Natürlich heisst das nicht, dass Uni Profs  deswegen unbedingt nahbarer sind, aber es herrscht ein  erheblich anderes, viel mehr kollegiales Klima. Zu Beginn meiner ersten Vorlesung jedes Semester begrüs- se ich jeden einzelnen meiner Studenten (und das können  teilweise knapp 00 sein) an der Tür in den Vorlesungssaal  per Handschlag und heiße sie herzlich willkommen. Begrüs- sung per Handschlag kennt man so in Australien nicht und  manche sind sehr verdutzt bzw denken erst einmal nicht,  dass ich ihr Dozent bin. Aber es stellt schon beim Eintritt  in den Kurs zu Beginn des Semester klar, dass ich jeden  einzelnen Wert schätze und ich den Stundenten auf Augen- höhe begegne. Und in eben dieser ersten Vorlesung stelle ich  sehr deutlich klar, dass wir – Stundenten und Dozent – uns  in einer Lern- und Forschungsgemeinschaft befinden, in der  wir gegenseitig von und miteinander lernen. Und dass es in  einem Semester eben nicht nur um das Erlernen und Verste- hen geht, sondern auch darum, als Mensch zu wachsen und  zu lernen. So lasse ich beispielsweise in der ersten Vorlesung  jedes Kurses meine Stundenten einen persönlichen Brief  an sich selber schreiben, in dem sie ihre Uni Ziele für das  Semester definieren, aber eben auch, was sie sich als Mensch  für die nächsten  Monate so vornehmen. Die versiegelten  Briefumschläge mit ihrem Brief geben sie anschliessend an  mich ab, und ich gebe sie am Ende des Semesters wieder an  sie zurück. Meist haben sie zum diesem Zeitpunkt vergessen,  dass sie diesen Brief an sich geschrieben hatten und es sind  häufig sehr bewegende emails, die ich anschliessend be- komme, in denen sie immer wieder hervorheben, dass sie es  ungemein geschätzt haben, wie ich sie als StudentIn und als  Mensch wichtig genommen habe. Dies sind nur zwei kleine Beispiele, aber sie setzen den Ton  für den gesamten Kurs. Und dieses Prinzip des ‘sich-auf- Augenhöhe-begegnen’ zieht sich durch den jeweiligen Kurs  hindurch. Und das ist kein Zufall und es ist auch nicht der  Tatsache geschuldet, dass dies mein Selbsteverständnis ist.  Vielmehr habe ich die Erfahrung gemacht, dass wenn meine  Studenten spüren, dass ich sie Ernst nehme, dass ich sie als  gleichwertig behandle, dann lernen sie besser und effektiver.  Natürlich ist es unerlässlich, qualitativ hochwertige und pä- dagogisch austarierte Themen anzubieten und StudentInnen  zu fordern, aber die eben beschriebene Haltung ist eben der  Schlüssel zum Erfolg:  nimm die Studis ernst, schenke ihnen Vertrauen und mach ihnen bei jeder Begegnung klar, dass sie ebenbürtiger Partner sind , dass sie nicht nur von mir lernen, sondern  auch ich von ihnen. Dass sie alles kritisch hinterfragen  müssen, inklusive meiner Person als Dozent, und dass sie  ein vollwertiges Mitglied einer Lehr- und Lerngemeinschaft  sind, in der wir uns gegenseitig mit Respekt und Vertrauen  begegnen. shake hands Augenhöhe in Brisbane                 Sebastian Kaempf Fazit am Ende dieses Magazins mit dem agilen Anstrich. In  allen Artikeln schillert es durch, was wir als bunt zusammenge- würfeltes Forum aussagen wollen:  Augenhöhe zwischen Lehrenden und Lernenden, ein solides  pädagogisches Arbeiten und dann ein  selbstbewusstes authen- tisches Experimentieren, um gesteckte Ziele zu erreichen - dann  arbeitet man eigentlich auch schon im agilen Bereich.


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Lehrer sind auch nur Menschen Wenn man sich die neueste Hattie-Studie ansieht, dann steht dort an allerer- ster Stelle „Kollegiale Zusammenarbeit“, wenn es um die Frage geht, welche  Faktoren für Lernprozesse am effektivsten sind. Insgesamt findet man agile  Mindsets in dieser Studie in den vorderen Bereichen.  Dazu mehr in unserem nächsten Magazin. Mehr zu den Autoren unter https://www.aufeigenefaust.com/wir/


4 Inhaltsverzeichnis samt Autorinnen und Autoren Dr. Sebastian Kaempf Augenhöhe in Brisbane      S.40   Prof. Dr. Detlef Stern Agiles Studieren  S.8 Julia Schmitz Global creativ exchange  auf See!     S.6 Laura Kristina Röhrig Agiler Werkstattbericht    S.4   Wolf Steinbrecher Schneeflocken - oder agil  zum Anfassen  S.0 André Pittlkau Mein Weg in die Schule S.28       Elisabeth Theisohn Hinhören und der non- verbale Raum      S.26   Thomas Michl Agilität ist Lernen  S.2 Heinz Bayer alias Otto Kraz - Eine Sache der Haltung  S.4 - Versetzungsscrum   S.22     Veronika Lévesque Agilität - Alter Wein, nur  neue Schläuche?     S.6  Prof. Dr. Dr. Christof Arn Gute Bildung ist schlicht  Zusammenarbeit     S.10 Tobias Kanthak Wie ich zu Scrum ge- kommen bin  S.14 Eckard Fischer Wer Visionen hat, sollte  zum Arzt gehen    S.18     Tobias Illner Der Flügelverleih    S.24    


Kontakt:  Otto Kraz auf www.aufeigenefaust.com otto.kraz@aufeigenefaust.com